Natalie Portmann kopiert Julianne Moore in Todd Haynes camp-Thriller
Die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman, re.) kopiert die Sexualstraftäterin Gracie (Julianne Moore).
François Duhamel Netflix

Der US-amerikanische Filmemacher Todd Haynes ist ein Meister des postmodernen Melodramas. Und Julianne Moore ist eine seiner treuesten Schauspielerinnen. Dreimal schon spielte die erdbeerblonde Ausnahmeschauspielerin bei ihm Hausfrauen in Pastellfarben. Unvergessen natürlich in dem von Douglas Sirk inspirierten Melodrama Dem Himmel so fern von 2002. Darin erzählte Haynes nicht nur eine nicht standesgemäße Liebesgeschichte zwischen einem jungen Gärtner und einer älteren Frau (wie Sirk 1955 in All That Heaven Allows), sondern er pimpte das Melodrama noch auf mit Rassismus und Homosexualität.

Er war 13, sie 36

Sein neuester Film May December ähnelt optisch indes eher der ersten Zusammenarbeit von 1995. Im auf verwaschene TV-Ästhetik setzenden Safe spielte Moore damals eine Hausfrau, die im rosa Plüsch ihrer Wohnung zu ertrinken droht. Eine seltsame Allergie hat von ihr Besitz genommen, und Schritt für Schritt zieht sie sich zurück aus dem erstickenden Eheleben – sehr zur Missgunst ihres Ehemanns.

Etwa zu derselben Zeit, Anfang der 1990er-Jahre, ist auch die Vorgeschichte von May December angesiedelt, die auf der realen Story der Sexualstraftäterin Mary Kay Letourneau basiert. Bei Haynes geht es um das nunmehr verheiratete Ehepaar Gracie und Joe, deren Kennenlernen Schlagzeilen verursachte: Denn als die 36-jährige Familienmutter Gracie Joe bei der Arbeit in einem Zoologiefachgeschäft kennenlernte, war dieser erst 13 Jahre alt und ein Schulkamerad ihres Sohns aus erster Ehe. Ein Prozess folgte, und das erste Kind des ungleichen Paares wurde im Gefängnis geboren. Zwillinge sollten noch kommen, nach Joes Erreichen der Volljährigkeit dann die Ehe.

Julianne Moore und Charles Melton
Glücklich trotz Altersunterschied? Gracie und Joe (Charles Melton).
François Duhamel Netflix

May December spielt knapp 25 Jahre später. Die Zwillinge sind auf dem Absprung ins College, und das Ehepaar Joe und Gracie öffnet seine Türen für Elizabeth, eine Schauspielerin, die in einem Fernsehfilm die Rolle der Gracie übernimmt. Vor allem Gracie hat die Hoffnung, positiven Einfluss auf ihre Darstellung zu haben. Durch die Anwesenheit der jüngeren, verführerischen Schauspielerin – Elizabeth ist 36, genauso alt wie Joe, während Gracie schon auf die 60 zugeht – entspinnt sich ein grandioses Psychodrama, das niemals in den Exzess kippt. Dafür sind all seine Protagonistinnen zu sehr darauf bedacht, den äußeren Schein zu wahren. Kurzum: Vor allem die beiden Frauen spielen sich ständig etwas vor, und nur eine von beiden ist sich darüber voll und ganz im Klaren.

Polyfilm Verleih

Verwaschene Farben, gedämpfter Sound

Ehemann Joe ist unfähig, etwas vorzuspielen. Er wirkt als erwachsener Mann fast so naiv, wie er als Schuljunge gewesen sein muss. Am meisten interessiert er sich für Insekteneier, die er sammelt und zu Schmetterlingen heranzüchtet. Mit 36 ist er Vater dreier Kinder und wirkt doch selbst noch ganz verpuppt. Das liegt, so legt Haynes Film nahe, an der problematischen Beziehung, die er mit Gracie führt. Sie gibt den Ton an mit ihren Launen, ihrem Perfektionismus und ihrer erstickenden Mütterlichkeit. Und Joe fängt an, mit dem Fortgehen der Kinder und durch die Fragen Elizabeths, Gracie unangenehme Fragen zu stellen: "Was, wenn ich zu jung war?"

Haynes inszeniert May December wie einen Fernsehthriller aus den 1990er-Jahren. Verwaschene Farben, gedämpfter Sound und immer wieder spannungsgeladene Musik, die oftmals normale, häusliche Szenen dramatisch überhöht. Ein campy Psycho-Melodram entspinnt sich da vor den Augen des Publikums – eine Dreiecksgeschichte, die an den Fassaden von Gracie, Joe und Elizabeth rütteln. An der Seite von Moore, deren Gracie ständig darum ringt, die Oberhand zu behalten, spielen Natalie Portman als skrupellose Schauspielerin Elizabeth und der gefeierte Newcomer Charles Melton, der Joes väterlich-bübisches Wesen kongenial verkörpert. Alles gerät hier ins Wanken, übrig bleibt schließlich nur noch Gracies zartes Lispeln, das Elizabeths Film-Gracie genüsslich ins Groteske verzerrt. (Valerie Dirk, 30.5.2024)