Sollte es in Europa nach zwei Jahren Ukrainekrieg tatsächlich noch Zeitgenossen geben, die Wladimir Putin für einen Meisterstrategen halten, der mit seinen Atomdrohungen die USA in Schach hält und Europa erzittern lässt, müssen diese jetzt ganz stark sein: Russlands Machthaber, so zeigt sich in der Diskussion über den Einsatz westlicher Waffen durch die ukrainische Armee gegen militärische Ziele in Russland, dürfte sich verspekuliert haben.

Macron (li.) und Scholz auf Schloss Meseberg.
REUTERS/Liesa Johannssen

Seit Kriegsbeginn spult Putin dasselbe Programm ab: Der Westen sei es, der den Konflikt eskaliere und Russland so dazu zwinge, "ernsthafte Konsequenzen" zu ziehen, notfalls auch mit Atomwaffen. Lange hatte diese Drohkulisse etwa bei Deutschlands Kanzler Olaf Scholz so stark verfangen, dass für die Ukraine lebenswichtige Waffen, etwa die Taurus-Marschflugkörper, bis heute nicht geliefert wurden.

Grünes Licht von Macron und Scholz

Dass nun ausgerechnet Scholz gemeinsam mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron der Ukraine grünes Licht für die – bisher von den meisten Partnern ausdrücklich verbotenen – Angriffe mit westlichen Waffen auf russische Angriffsbasen signalisiert, macht deutlich, dass Putins Drohgebärden viel von ihrem Schrecken verloren haben.

Wichtiger noch: Auch Kiews wichtigster Waffenlieferant, die USA, weicht vom strikten Nein zu Angriffen auf Angriffsbasen im russischen Kernland ab. Man habe die Unterstützung für die Ukraine bisher stets an neue Umstände angepasst, erklärte Außenminister Antony Blinken vielsagend. Später erklärte ein US-Vertreter, Kiew dürfe Nahe der Region Charkiw mit westlichen Waffen auch auf russischem Gebiet angreifen. Das verschafft der ukrainischen Armee endlich wieder Manövrierraum.

Die roten Linien beginnen nämlich auch deshalb nach und nach zu verblassen, weil die Lage der Ukraine wegen der russischen Luftangriffe zuletzt deutlich schwieriger geworden ist. So, wie es bisher läuft, kann es nicht weitergehen, will man verhindern, dass die Ukraine früher oder später unter dem russischen Raketen- und Bombenterror zusammenbricht.

Massaker als Auslöser für Umdenken

Es ist deshalb gut möglich, dass die jüngsten Massaker an der ukrainischen Zivilbevölkerung durch russische Luftangriffe – etwa auf einem Baumarkt in Charkiw zur besten Einkaufszeit – zu dem Kurswechsel beigetragen haben. Die Ukraine, so Macron und Scholz, soll die verheerenden russischen Luftangriffe mithilfe der modernen westlichen Waffensysteme endlich dort abwehren dürfen, von wo aus sie gestartet werden.

Für die ukrainische Bevölkerung, die den kurz hinter der Grenze gestarteten Luftangriffen der russischen Armee im Moment weitgehend wehrlos ausgeliefert ist, sind das gute Nachrichten. Dass sich Kiew bei Angriffen in Russland strikt an das Völkerrecht hält – etwa, indem seine Armee keine zivilen Ziele ins Visier nimmt –, hat es bisher glaubhaft bewiesen.

Gut, dass Putins wirre Drohungen zunehmend an Wirkung verlieren und die Ukraine – spät, aber doch – bekommt, was sie braucht, um ihre Bevölkerung zu schützen. Nicht der Westen eskaliert den Krieg, sondern Putin selbst. Wenn die Ukraine russische Luftangriffe frühzeitig stoppt, indem sie Angriffsbasen hinter der Grenze zerstört, rettet sie Leben. Der Westen sollte, am besten rasch auch gemeinsam mit den USA, ihr dabei so effizient wie möglich helfen. (Florian Niederndorfer, 30.5.2024)