Amazonas oder Donau? In den renaturierten Seitenarmen, wie hier dem Spittelauer Arm bei Hainburg, darf sich der Fluss wieder selbst seine Wege bahnen.
Jakob Pallinger

"Wir sind hier in einem der entlegensten Teile der Region", sagt Christian Baumgartner, und so ganz kauft man ihm das noch nicht ab. Neben ihm frisst sich ein Containerschiff stromaufwärts Richtung Wien, ein Bagger der ViaDonau gräbt Kies aus dem Flussbett, und am Himmel über dem Fluss setzen Flugzeuge zum Landeanflug in Schwechat an. "Das sollte der Wildpfad sein." Baumgartner folgt einem kaum erkennbaren Pfad durch ein Dickicht an Pappeln, Sträuchern und Brennesseln und plötzlich sind alle Zeichen von Zivilisation aus dem Blickfeld verschwunden. Vor einem steilen Abgrund bleibt er stehen und zeigt auf die Landschaft darunter, die mit dem verzweigten Fluss und der dichten Vegetation an den Ufern mehr an den Amazonas als an die Donau erinnert. "So soll eine Flusslandschaft aussehen."

Baumgartner ist Wissenschafter des Nationalpark Donau-Auen: 9600 Hektar Natur, eingebettet zwischen Wien und Bratislava, Windrädern und den Äckern des Marchfeldes – groß genug, um Platz für 6000 Arten zu bieten. "Das ist keine Waterworld, sondern eine Fläche, in der Natur wieder Natur sein darf", sagt Baumgartner, der an diesem Tag gemeinsam mit anderen Mitarbeitenden des Nationalparks einige Politiker und Medien durch das Areal führt. Er ist sichtlich stolz darauf, was sich hier in den vergangenen Jahren getan hat. Nicht durch den Menschen, sondern durch seine Abwesenheit. "Der Fluss entscheidet, was hier passiert."

Streit um Renaturierung

Renaturierung heißt der Prozess, bei dem es darum geht, die Natur wiederherzustellen und wieder mehr "echte" Natur zu ermöglichen. Spätestens seit den vergangenen Wochen ist der Begriff auch in der österreichischen Politik so richtig angekommen. Im Februar hatte das EU-Parlament das Renaturierungsgesetz bereits abgesegnet, nun hat sich um die österreichische Position zur Verordnung ein innenpolitischer Streit entzündet, an dem auch das EU-Gesetz zerbrechen könnte.

Eines der Bedenken: Momentan weiß noch niemand so genau, welche Flächen in Österreich von dem Gesetz betroffen wären – und wie eine Renaturierung dort konkret aussehen könnte. Müssen einige Äcker im Marchfeld dann wieder der Au oder dem Wald weichen? Wo sollte es wieder Moore geben, die in den vergangenen Jahrzehnten entwässert wurden? Welche Flüsse werden wo wieder entgradigt?

Fluss in steinernem Korsett

Es ist ein Kampf zwischen wirtschaftlichen Interessen und dem Umwelt- und Klimaschutz, wie er sich auch in den Donau-Auen östlich von Wien schon einmal abgespielt hat. Vor fast genau 40 Jahren demonstrierten Aktivistinnen und Aktivisten dort mit Erfolg gegen die Errichtung eines Wasserkraftwerks, zwölf Jahre später wird das Areal zu einem Nationalpark. Für die Wissenschafterinnen und Wissenschafter ist dieser heute ein Beispiel dafür, wie Renaturierung in der Praxis funktionieren kann – und was in ihren Augen in Österreich vielerorts immer noch falsch läuft.

"Hier sieht man, wie es nicht sein sollte", sagt Eva-Maria Pölz, Biologin des Nationalparks Donau-Auen, und zeigt vom Schlauchboot aus auf das gegenüberliegende Donauufer neben der Andreas Mauer Brücke bei Stopfenreuth. Aufgeschüttete quadratische Steine bilden dort meterhohe Ufermauern, die die Donau in einem künstlichen Steinkorsett halten. Dadurch seien die Au und viele Seitengewässer vom Fluss abgeschnitten. Die Folge: Die Umgebung trocknet langsam aus, die Grundwasserstände sinken, die Hitzeentwicklung nimmt zu und die Artenvielfalt ab.

Eva-Maria Pölz (grüne Weste) fährt gemeinsam mit anderen Mitarbeitern des Nationalparks und Besuchern durch den renaturierten Seitenarm der Donau.
Jakob Pallinger

Wieder an Hauptfluss anbinden

Pölz zieht zwei Karten aus ihrer Tasche. Auf einer sieht man die Donau neben Wien im 18. Jahrhundert: ein breites Netz an Kanälen und Flussarmen, die wie feine Adern fast direkt am Zentrum der Stadt vorbeilaufen. Auf der anderen Karte ist die Fläche zu sehen, wie sie heute aussieht: Die vielen Flussarme sind einem einzigen, fast geradlinigen Strom gewichen, von dem nur vereinzelt kleine Nebenflüsse abzweigen. Die einstige Au ist vielerorts zu einem eingeengten Flussbett geworden, das von mehreren Kilometern Breite auf ein paar hundert Meter geschrumpft ist.

Dasselbe Gebiet, aber unterschiedliche Zeiten: Von vielen Flussarmen (re.) im 18. Jahrhundert zu einem recht geradlinigen Fluss heute.
Jakob Pallinger

Auf einen dieser Nebenflüsse etwas weiter stromabwärts steuert Pölz das Schlauchboot nun zu. Den sogenannten Spittelauer Arm bei Hainburg hat es eigentlich gar nicht mehr gegeben. Im 19. Jahrhundert wurde er mit Flussbausteinen von der Donau abgetrennt und ist an vielen Stellen ausgetrocknet. Erst in den vergangenen Jahren haben ihn Forschende des Nationalparks Donau-Auen und andere Beteiligte wieder an den Hauptfluss angebunden und damit ins Leben zurückgeholt. "Wir haben nur die Blocksteine entfernt, damit sich der Fluss wieder seinen Weg bahnen kann", sagt Pölz. "Alles andere übernimmt die Natur."

Alles im Wandel

Was das bedeutet, erklärt Wissenschafter Christian Baumgartner, bevor er auf der Insel, die den Spittelauer Arm vom Hauptfluss abgrenzt, zur Wanderung auf dem Wildpfad ansetzt. "In den Auen ist normalerweise immer alles im Wandel", sagt er. Im Durchschnitt wechsle eine Fläche dort alle 30 bis 50 Jahre zwischen Land und Wasser – je nachdem, welche Sedimente der Fluss bei Hochwasser bringt und welche er durch Erosion wieder nimmt. Dieser dynamische Wandel sei notwendig und Voraussetzung für eine so hohe Artenvielfalt in der Region. "Dadurch bildet sich eine ganze Kette an Vegetationsgemeinschaften, die nur bestehen können, wenn sie durch den Wandel der Au immer wieder bei null anfangen können."

Der Eingang zum Spittelauer Arm bei Hainburg war bis vor ein paar Jahren noch durch Flussbausteine von der Donau abgetrennt. Nun ist er wieder vollständig an den Fluss angebunden.
Jakob Pallinger

Trennt man die Seitenarme eines Flusses durch Ufermauern ab, wie es in Österreich vielerorts passiert sei und immer noch passiere, unterbreche man diesen natürlichen Wandel. Da von einer großflächigen Au viel Wasser ins Grundwasser fließe, leiden infolgedessen die Grundwasserstände. Auch die Überschwemmungsgefahr nehme zu, da der Raum fehlt, in dem sich der Fluss bei Hochwasser ausbreiten kann. Weiden und Pappeln, die an Hochwasser angepasst sind, werden von anderen Baumarten verdrängt, einige Vogelarten verlieren durch fehlende Kiesbänke ihre Brutstätten.

Wasserstand sinkt

Viele Jahrzehnte lang habe man die Donau auf diese Art und Weise beschränkt, auch, um die Schifffahrt zu fördern, sagt Baumgartner. "Seit 2008 hat sich der Warentransport auf der Donau jedoch halbiert." Stattdessen sei die Personenschifffahrt im Aufwind. "Die Menschen wollen keine verbauten Ufer, sondern eine schöne Natur sehen." Allein die Frachtschifffahrt zu fördern, sei angesichts dieser Entwicklung nicht mehr zeitgemäß.

Hinzu kommt: Begradigte Flüsse, wie es die Donau vielerorts ist, neigen zur sogenannten Sohlenerosion. Da der Fluss durch die Einengung schneller wird, kann er auch mehr Kies transportieren und gräbt sich immer tiefer in das Flussbett. "Jedes Jahr sinkt der Wasserstand in der Au um circa einen bis eineinhalb Zentimeter", sagt Baumgartner. Das klingt zunächst nach nicht viel. "In einer Generation ist das aber mehr als ein Meter. Da ist die Aulandschaft tot."

Um dieses Absinken zumindest zu verlangsamen, baggert die ViaDonau in einer Art Sisyphus-Arbeit regelmäßig Kies aus der Donau, um ihn weiter flussaufwärts wieder ins Wasser fallen zu lassen. "Das ist aber nicht genug, um die Sohlenerosion aufzuhalten", sagt Baumgartner. Würde man dem Fluss wieder mehr Raum geben, könne man auch die Sohlenerosion besser verhindern. Das Problem: Rückbauten von Ufermauern oder anderen Bauwerken seien selten beliebt. "Freiwillig baut keiner zurück."

Landschaft der Natur überlassen

Entlang des Spittelauer Arms treibt das Schlauchboot sanft mit der Strömung. Pölz zieht das Ruder aus dem Wasser und versinkt in Schweigen und Lauschen. Von den Bäumen am Ufer zwitschern die Vögel, ein Kuckuck ruft in der Ferne, durch die Gräser streift der Wind. "Es ist etwas Besonderes, zwischen zwei Ballungsräumen eine solche Stille zu erleben", sagt Pölz. Das Spannendste sei, zuschauen zu können, was passiert, wenn man die Landschaft wieder dem Wandel der Natur überlässt.

Aulandschaften wie hier rund um den Spittelauer Arm beugen Hochwasser vor, sorgen für ein kühleres Mikroklima, reinigen das Wasser und speisen mehr Wasser ins Grundwasser ein.
Jakob Pallinger

Eine halbe Stunde später treibt das Schlauchboot wieder auf der schnellen Strömung der Donau, vorbei an Containerschiffen, bis zur Burg Theben, die sich schon auf der slowakischen Seite auf einem Felsmassiv am Zusammenfluss von March und Donau erhebt. Seit rund 1200 Jahren blickt die Burg auf die Au und das Marchfeld, hat unzählige Schiffe vorbeifahren und zig Billionen Liter Wasser vorbeifließen sehen, Kriege und Hochwasser überlebt. Nun ist sie Denkmal und Freilichtmuseum, entlang ihrer Mauern spazieren Besucher, blicken Richtung Wien und sehen keine Stadt, sondern nur einen gewaltigen Fluss und die Au, die heute vielleicht zumindest ein Stück mehr wieder so aussieht wie vor 300 Jahren. (Jakob Pallinger, 31.5.2024)