Oksana Lyniv dirigiert
Oksana Lyniv dirigiert im Wiener Konzerthaus Werke, die die Katastrophen des 20. Jahrhunderts thematisieren.
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Die Wiener Festwochen präsentieren am Sonntag, dem 2. Juni, im Konzerthaus mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv und dem Kyiv Symphony Orchestra samt Chor ein Werk, das auf historische Verbrechen verweist. Jevhen Stankovychs Kaddish Requiem "Babyn Jar" thematisiert die Ermordung von über 33.000 Jüdinnen und Juden durch deutsche Nationalsozialisten, welche 1941 in der bei Kiew gelegenen Schlucht Babyn Jar stattfand. Die Festwochen wollten diese Aufführung symbolisch mit jener von Benjamin Brittens War Requiem zusammenfügen. Da das SWR-Orchester aber von Teodor Currentzis hätte dirigiert werden sollen, gab es großes Entsetzen. Lyniv wollte nicht mit Currentzis, der zum Krieg gegen die Ukraine schweigt, in Zusammenhang gebracht werden. So wurde das War Requiem abgesagt.

STANDARD: Eigentlich klar, dass Sie und die aus der Ukraine anreisenden Musikerinnen und Musiker nicht mit jemandem in Verbindung gebracht werden wollten, der zum Krieg schweigt. Was ist da Anfang des Jahres passiert?

Lyniv: Wir wurden nicht darüber informiert, dass unser Konzert in einem Zusammenhang mit jenem von Currentzis stehen sollte. Wir werden ja auch eine Uraufführung spielen, mit einem aktuellen Bezug zum Krieg. Zwei, drei Tage vor der Pressekonferenz kam eine Mail der Dramaturgin: Man hoffe, dass wir bereit sind, ein Teil des Doppelrequiems zu sein. Das war sehr kurzfristig, ich war schockiert. Wir leben ja in der Gegenwart, nicht 20 Jahre nach diesem Krieg, die Bomben fallen jetzt auf unsere Städte, Familien und Kinder werden ermordet. Es kommen die Musikerinnen und Musiker ja aus der Ukraine. Jeder und jede von ihnen ist betroffen, ob man nun jemanden verloren hat, jemanden an der Front hat oder kein Zuhause mehr besitzt. Da sollen wir mit Currentzis zusammengeführt werden, um eine Debatte auszulösen? Das ging nicht. Er ist nicht die Person, mit der ich mich auseinandersetzen möchte. Ich habe persönlich nichts gegen ihn. Ich habe gebeten, diese Konzerte zu entkoppeln, ansonsten würde ich nicht kommen. Die Entscheidung lag bei den Festwochen, die das SWR-Orchester dann ausluden. Intendant Milo Rau hat sich entschuldigt, er hat gemeint, es wäre der Versuch einer Friedensutopie gewesen. Das ging nicht.

STANDARD: Was denken Sie über Currentzis, der sich in beiden Systemen feiern lässt?

Lyniv: Er sitzt gerne auf zwei Stühlen, tut so, als würde ihn das Ganze nichts angehen. Ich denke, es ist auch ein Kalkül dahinter, er profitiert für alle seine Projekte. Er ist das Gegenteil von mir. Ich schau in die Wirklichkeit, auf diesen Krieg, er flüchtet aus der Realität. Ich habe großen Respekt vor russischen Kollegen wie Evgeny Kissin, Kirill Petrenko, Semyon Bychkov und Wladimir Jurowski, die sich eindeutig deklariert haben. Sie sind ein Licht der Hoffnung. Es gibt doch Personen, die nicht käuflich sind, die sich nicht manipulieren lassen.

STANDARD: Was ist das Charakteristische am Kaddish Requiem?

Lyniv: Es wurde zum Gedenken an eine Tragödie komponiert, die in der Sowjetzeit verschwiegen wurde. Erst ab der Unabhängigkeit der Ukraine wurde Erinnerung möglich, so wurde das Werk zum 50. Gedenktag komponiert. Das Verschweigen ist schockierend. Dort gab es schon vor dem Massaker 1941 an Jüdinnen und Juden ein Massengrab, in dem die Opfer des Hungermords durch Stalin von 1932 und 1933 lagen. Aber die sowjetischen Behörden wollten einen Kult des großen Sieges im Zweiten Weltkrieg schaffen. Das ganze Konzept des sowjetischen Volkes wurde um diesen Kult herum aufgebaut. Deswegen wollte man die jüdische Tragödie nicht hervorheben. Der Begriff des sowjetischen Volkes machte es unmöglich, überhaupt darüber zu sprechen, dass es Menschen gab, die am schrecklichsten unter der Nazi-Besatzung gelitten haben. Das heißt, der Holocaust wurde in der Sowjetunion völlig vertuscht. 1950 wurde beschlossen, Babyn Jar mit Abfällen aus Ziegelfabriken aufzuschütten, um ein flaches Relief zu schaffen, Transportwege durch die Schlucht zu verlegen und hier einen Park einzurichten. 1976 wurde ein Denkmal für sowjetische Bürger und Kriegsgefangene, Soldaten und Offiziere der sowjetischen Armee, die von deutschen Nazis in Babyn Yar erschossen wurden, errichtet. Aber die jüdischen Opfer wurden wieder verschwiegen.

STANDARD: Das Werk ist also ein lebendiges Mahnmal?

Lyniv: Es geht um schreckliche Dinge, um solche, die wir auch heute jeden Tag erleben, es geht um diesen Vernichtungs- und Machtwahn um jeden Preis. Es geht um vergessene Opfer dieses Wahns. Der Komponist Jevhen Stankovych wollte darin zwei Dinge verbinden: Kaddish und das christliche Requiem, damit wir zusammen aller Opfer gedenken. Er stellt die Frage nach Gerechtigkeit, die Opfer richten auch die Frage an Gott: Wenn du uns nach deinem Ebenbild erschaffen hast, warum lässt du das zu? Warum lässt du zu, dass wir in diesem Schmutz vergessen liegen? Sie verlangen nach einem Gericht, es soll Verantwortung übernommen werden. Es gibt keine Kriegsbilder, das Werk reißt den Vorhang der Geschichte auf, es geht um Tatsachen. Alles beginnt mit einem Tamtam-Schlag, dann sind da im Pianissimo Reihen von zehn Tönen. Ich sagte in der Probe: Das sind die Opfer, sie sind wie Schatten, die gewartet haben, aus dieser Vergessenheit zu treten. Früher ist man an diesem Ort spazieren gegangen, bis 1961 gab es dort eine Tanzfläche. Man hat an diesem Ort gegessen, getrunken und war sich nicht bewusst, dass nur ein paar Zentimeter darunter in der Erde die Opfer lagen.

STANDARD: Das Konzert ist emotional und auch logistisch eine Herausforderung.

Lyniv: Das Konzert ist sehr symbolträchtig für uns. Mein Ziel wäre, dass jede und jeder nach dieser Stunde der Zeuge eines speziellen Moments würde. Auf der Bühne sind 150 Personen, es ist auch nicht so einfach mit der Ausreise. Die Männer brauchen nicht nur die Erlaubnis von Kultur- und Außenministerium. Es fallen auch Entscheidungen an der Grenze, es fliegen ja keine Flugzeuge. Da wartet man im Bus bis zu elf Stunden. Nach dem Konzert fahren alle zurück, was ein trauriger Gedanke ist. Alle stellen sich die Frage, wie es weitergehen wird. Der Tod ist nichts Abstraktes mehr, er ist jeden Tag da.

STANDARD: Besitzt Kunst in solchen Zeiten eine besondere Bedeutung?

Lyniv: Das Kaddisch Requiem konserviert Ereignisse wie ein lebendiges Denkmal. Die Kunst bleibt wichtig, sie hat auch Einfluss auf Bildung und Verstand, sie ist gemeinsame Reflexion über Geschehenes, sie hilft, Erinnerung zu verarbeiten. Selbst in der Ukraine gehen die Menschen in Konzerte. Sehr oft sieht man sie während des Sirenenalarms in U-Bahn-Stationen strömen, um sich zu verstecken. Und dann beginnen sie gemeinsam zu singen, es gibt sogar Konzerte direkt in Luftschutzbunkern. Das alles hilft, die generelle Hoffnung auf Humanismus nicht aufzugeben. Musik hilft, dieses Gefühl zu vermitteln, es gäbe Solidarität. Ich bin die Leiterin und Gründerin des Jugendorchesters. Wir hatten ein Mädchen im Orchester, das schrieb, sie könne nicht zum Projekt kommen, sie könne nicht üben, sie hätte die Nachricht vom Tod ihres Vaters bekommen. Wir baten sie, dennoch zu kommen, was sie auch tat, wobei wir den anderen Kindern nichts sagen sollten. Das Mädchen war traurig, aber mit uns auf der Bühne unter ihren Freunden. Ein Junge, ein Solotrompeter, der seinen Vater verlor, ist auch ein Beispiel: Er meinte zur Kantate Daddy's Book von Evgeni Orkin, er spiele für seinen Vater, von dem er sich nicht verabschieden konnte. Der gemeinsame Schmerz, diese Verbundenheit im Orchester, das alles kann Erleichterung bewirken.

STANDARD: Ihre Rolle als Dirigentin bekommt eine neue Dimension?

Lyniv: Manchmal fühlt man sich hilflos, man kann dieses Blutbad nicht stoppen, wir sehen kein Ende. Und wenn es endet, was wird der Preis sein? Der Preis ist jetzt schon zu hoch. Wir haben im Jugendorchester viele, die kein Zuhause mehr haben und ihre Eltern an der Front verloren haben. Das kann man nicht mehr wiedergutmachen. Ich habe das Orchester 2016 als pädagogisches Projekt gegründet, seit dem Krieg hat es auch eine humanitäre Mission. Bei den Proben muss ich insofern sehr vorsichtig sein mit den Bildern, mit denen ich die Musik erkläre. Manchmal kann eine bestimmte Werkstelle ungewollt schmerzliche Erinnerungen auslösen.

STANDARD: Es gibt am Sonntag auch eine Uraufführung ...

Lyniv: Mir war wichtig, ein neues Werk dabeizuhaben. Die Todesfuge von Evgeni Orkin basiert auf Paul Celans gleichnamigem Gedicht. Celan hat als Einziger in seiner Familie die Vernichtung durch die Nazis überlebt. Mich hat immer beeindruckt, dass er bis zu seinem Ende in Paris unter dem Komplex gelitten hat, dass er niemanden aus seiner Familie retten konnte, dass er überlebt hat. So ein Gefühl habe ich auch: Du bist in Sicherheit, dirigierst, aber was ist mit deinen Angehörigen? Was ist mit jenen, die man nicht retten kann? Es ist Ohnmacht. Sie treibt uns aber auch an, etwas aktiv zu unternehmen. Deswegen ist so ein Konzert unglaublich bedeutsam. Das ist nicht nur ein Zeichen der Solidarität in dieser dunklen Zeit. Die gemeinsame Verarbeitung der Geschichte hilft uns, die neue Zukunft zu bauen. (Ljubiša Tošić, 29.5.2024)