Die Show ging in Manchester unter einem Dach über die Bühne.
Chanel

Und dann regnete es doch. Manchester, im Dezember vergangenen Jahres. Ins Wasser fiel die Chanel-Modenschau dennoch nicht. Das Unternehmen hatte vorgesorgt. Und eine 115 Meter lange Stahlkonstruktion über der Location, einer Ausgehmeile im Norden der Stadt, errichten lassen. Die Thomas Street mit ihren gedrungenen Backsteinhäusern, ein Straßenzug aus Bars, Thaimassage-Salons und Tattoo­shops, wurde zum Schauplatz der alljährlich stattfindenden Métiers-d’Art-Show: Mit Manchester machte Chanel diesmal im einstigen Zentrum der Textilindustrie, der britischen Metropole der Popkultur, der Heimat von The Smiths, New Order, Joy Division und Oasis, halt.

Das transparente Dach jedenfalls zahlte sich aus, die Gäste konnten getrost die Regenschirme zusammenfalten. So prosteten sich vor der Show Kristen Stewart, Tilda Swinton, Hugh Grant und der Nachwuchs der Gallagher-Brüder an den Tresen der Pubs zu. Wenig später saßen 600 internationale Gäste wie aufgefädelt auf Bierbänken und an Holztischen entlang der Straße, holten die Smartphones hervor und ließen Tweedkostüme in Orange und Apfelgrün, Mary-Janes, Kniestrümpfe, mit Sicherheitsnadeln bestickte Kleider, Schals mit Manchester-Schriftzug an sich vorbeilaufen.

72 Looks, um genau zu sein. Viel Zeit hatten die Pariser Zulieferbetriebe nicht für die Entwicklung und Produktion der Kollektion, die von Anfang November bis Anfang Dezember gefertigt worden war – das bekommen nur eingespielte Ateliers hin. Mitverantwortlich für die Ausführung der aufwendigen Outfits: der Federschmuckmacher Lemarié, Plissierexperte Lognon, die Modisterei Maison ­Michel, der Schuhmacher Massaro, von jeher bei Chanel für die Schuhe verantwortlich, sowie Le­sage, spezialisiert auf die glitzernden Stickereien mit Plättchen und Stäbchen.

CHANEL 2023/24 Métiers d'art Show — CHANEL Shows
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Die Métiers-d’Art-Show, mit der die hauseigenen Handwerksbetriebe gefeiert werden sollen, ist heute auch ein gigantischer Marketingevent, ein Social-Media-Spektakel und durchaus auch eine Logistikleistung. Deren Aufwand zahlt sich sowohl für den Standort als auch für Chanel aus: Rund acht Millionen Pfund sollen die Show und das Drum­herum in die Kassen von Manchester gespült haben. Das Luxusunternehmen dürfte sich in seiner Strategie bestätigt fühlen. In den vergangenen fünf Jahren wurde der Umsatz von Chanel auf über 20 Milliarden Euro verdoppelt – ein Grund dafür dürfte auch die Erhöhung der Preise für ausgewählte Handtaschenmodelle sein.

Stadt der Musik

Wieso die Wahl ausgerechnet auf Manchester fiel? In der Regel findet das Métiers-d’Art-Spektakel an Orten statt, die eine Verbindung zur Firmengründerin haben. Diesmal soll Coco Chanels zehnjährige Beziehung mit Hugh Grosvenor, dem zweiten Herzog von Westminster, der in Eaton Hall südlich von Manchester lebte, den Ausschlag für den Standort gegeben haben. Aber auch Virginie Viards Interesse an der Popkultur der Achtzigerjahre. Manchester sei für sie die "Stadt der Musik", bekannte die Kreativ­chefin nach der Show in der Thomas Street.

Die Idee, neben der Couture eine weitere Spielwiese für die Pariser Spezialbetriebe, die Chanel seit den 1980er-Jahren bis heute aufgekauft hat, zu eröffnen, hatte das Modehaus allerdings schon um die Jahrtausendwende. 1997 wurden sie zusammen­gefasst unter dem Label Paraffection. Der richtige Einfall zum richtigen Zeitpunkt: Exklusive Handarbeit made in Europe – oder noch besser: fabriqué à Paris – ist heute mehr denn je ein Plus fürs Image.

2019 zogen die Ateliers um in das M19, ein lichtdurchflutetes modernes Gebäude mit Baumbestand im Innenhof, der Entwurf des Architekten Rudy Ricciotti gilt seither als Vorzeigestandort von Chanel. Von dessen Ambitionen zeugen bereits Fotos aus dem Jahr 2019 – sie zeigen Präsident Bruno Pavlovsky in Schlips und Kragen auf der Baustelle. Heute arbeiten in dem Gebäudekomplex an der Place Skanderbeg hunderte Beschäftigte.

Um zu verstehen, wie eine Métiers-d’Art-Kollektion entsteht, lohnt sich eine Stippvisite in jenem Gebäudekomplex im 19. Arrondissement der Stadt, in dem die Métiers-d’Art-Abteilungen unter einem Dach versammelt sind. Christelle Kocher, künstlerische Leiterin der Ateliers Maison Lemarié und Longon, sitzt inmitten des Archivs. Vor ihr auf dem Tisch liegen Stoffproben der Kollektion, die sie mit ihrem Team für die Show in Manchester entwickelt hat: ­ineinander verschlungene C, die aus unzähligen ­Sicherheitsnadeln bestehen, ein schwarz-weiß-orange­farbenes Patchwork aus Tweedblüten.

Die Kollektion wurde in den Pariser Ateliers gefertigt.
Chanel

Vor 14 Jahren wurde die französische Mode­designerin, die mit Koché auch ein eigenes Label führt, von Karl Lagerfeld und Virginie Viard engagiert. "Ich war sehr überrascht von dem Angebot", erinnert sie sich. Kocher, die Mitte der Neunzigerjahre zum Studium nach London gezogen war, sagte zu. Was 2010 in einem kleinen Atelier mit einem überschaubaren 15-köpfigen Team begann, hat heute im M19 viel Luft und Platz.

Neue Impulse

Was sich seit ihren Anfängen bei Chanel sonst noch verändert hat? "Es gibt ein gesteigertes Interesse am Handwerk", sagt Kocher. Der Respekt der Kundschaft vor dem Aufwand, der hinter den Kollektionen stecke, sei gewachsen. "Ein Grund dafür ist der Aufstieg von Fast Fashion, so absurd das klingen mag", glaubt die französische Designerin.

Designerin Christelle Kocher ist künstlerische Leiterin der zu Chanel gehörenden Ateliers Lemarié und Lognon.
Jean-Philippe Raibaud

Zu den wichtigsten Aufgaben von Christelle Kocher gehört, den Ateliers neue Impulse zu geben, das Handwerk querzubürsten, ihm Coolness einzuhauchen. "Eine Kamelie wird immer per Hand gefertigt. Gleichzeitig experimentieren wir mit Digitaldrucken von Federn und Blüten." Sagt Kocher und deutet auf eine Stoffprobe. „Wir arbeiten als Team eng zusammen, von den Entwicklern von Schnittmustern bis zu Kreativchefin Virginie Viard.

Doch was hat sich an der Arbeitsweise des Teams seit dem Tod von Karl Lagerfeld vor fünf Jahren verändert? Der gebürtige Hamburger gilt schließlich als Erfinder der außerordentlichen Chanel-Métiers-d’Art-Kollektion – er hatte sie 2002 eingeführt. Christelle Kocher scheint diese Frage nicht zum ersten Mal zu beantworten: "Gar nicht so viel." Virginie Viard sei schließlich ebenfalls seit Jahrzehnten im Haus. Aber ja, der Vibe der Kollektion sei vielleicht etwas weiblicher geworden, räumt Kocher ein. Ein Rundgang durchs Gebäude zeigt: Das hochspezialisierte Kunsthandwerk scheint nach wie vor überwiegend in weiblicher Hand zu sein. Einige Gänge weiter sitzen Frauen über Kamelienblüten und biegen die Blätter für die aktuelle Kollektion zurecht. In diesem Haus braucht es neben dem technischen Knowhow vor allem zweierlei: Zeit und Geduld. (RONDO, Anne Feldkamp, 2.6.2024)

Die Reise nach Manchester und Paris erfolgte auf Einladung von Chanel.