Französische Sicherheitskräfte und Unabhängigkeitsaktivisten stehen sich an einer Straße in der Hauptstadt Nouméa– mit Sicherheitsabstand – gegenüber. Mittlerweile hat sich die Situation in Neukaledonien wieder beruhigt.
AFP/THEO ROUBY

Die Unruhen in Neukaledonien im Südpazifik hallen immer noch nach. Frankreich entsandte hunderte Sicherheitskräfte in das knapp 17.000 Kilometer entfernte Überseegebiet, schließlich machte sich auch Präsident Emmanuel Macron auf den langen Weg, um die Wogen zu glätten. Grund für die Ausschreitungen war eine geplante Wahlrechtsreform, die – auf den Punkt gebracht – Festlandfranzosen bei künftigen Wahlen auf der Inselgruppe wohl eine knappe Mehrheit gegenüber den Urbewohnern verschafft hätte. Die Ausschreitungen der sogenannten Kanak hatten sieben Tote und hunderte Verletzte gefordert.

Bei seinem Besuch erklärte sich Macron bei der Wahlrechtsreform gesprächsbereit, mittlerweile ist auch der Ausnahmezustand wieder aufgehoben worden. Doch die Aufstände mit Straßenbarrikaden und hunderten brennenden Autos haben die Welt daran erinnert, dass der Kolonialismus auch im Jahr 2024 noch nicht gänzlich aus der Welt geschafft ist. "Diese Überseegebiete sind ein Erbe des Kolonialismus und führen ihn gleichzeitig fort", sagt der deutsche Historiker und Kolonialismusexperte Jürgen Zimmerer zum STANDARD. Er erinnert auch daran, dass mit dem Falklandkrieg 1982 vor gar nicht allzu langer Zeit auch noch Krieg deswegen geführt wurde.

"Überbleibsel des Kolonialismus"

Dass die rechtliche Struktur der Gebiete unterschiedlich ist und etwa Neukaledonien im Gegensatz zu Guadeloupe kein Teil der EU ist, ändere nichts am kolonialen Ansatz. "Auch früher war der Rechtsstatus der Kolonien unterschiedlich. Die offizielle Rhetorik lautet ja mittlerweile: Das sind keine Kolonien mehr, sondern europäische Länder außerhalb Europas, so kann man quasi auch den Kolonialismusvorwurf aushebeln. De facto ist es aber ein Überbleibsel des Kolonialismus", sagt Zimmerer. Bezeichnend ist dabei, dass die Ausschreitungen in Neukaledonien ihren Ursprung in dem altbekannten Konflikt haben, wie viel Mitsprache die ursprüngliche Bevölkerung hat.

Die Spuren der Ausschreitungen, in diesem Fall ausgebrannte Autos, werden entfernt.
IMAGO/Chabaud Gill/ABACA

Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg hat die große Dekolonisation eingesetzt. Von den 1940er-Jahren bis zur Jahrtausendwende wurden mehr als 100 Kolonien und andere Territorien unabhängig. In Europa haben aber vor allem Frankreich und Großbritannien gewisse Gebiete bis heute unter Kontrolle. "Das hat geostrategische und wirtschaftliche Gründe, oft sind aber auch die lokalen Eliten gegen die Unabhängigkeit, weil sie gewisse Vorteile haben wie beispielsweise besseren Zugang zum Mutterland", sagt Zimmerer.

Neue Player mischen mit

Immer wieder gab es in der Geschichte daher den Konflikt, dass die Bevölkerung großteils für und die Elite gegen die Unabhängigkeit war. "In Westafrika sind in den vergangenen Monaten frankophile Eliten weggeputscht worden, die ihre Kinder zum Studieren nach Paris geschickt haben, während die Bevölkerung so arm war, weil die Wirtschaftsverhältnisse zum einstigen Mutterland so unausgeglichen waren. Jetzt gibt es mit Russland und China neue Player, die vermeintlich attraktivere Konditionen bieten und neue strategische Optionen versprechen", sagt Zimmerer.

Apropos neue Player: Würde sich Frankreich tatsächlich einmal aus Neukaledonien zurückziehen, würde China wohl bereitstehen, das sich schon jetzt in der Region breitmacht. Die Inselgruppe nimmt eine geostrategisch wichtige Position ein und ist noch dazu einer der weltweit größten Nickelproduzenten. Sind bestimmte Gebiete einfach dazu verdammt, unter Großmachteinfluss zu stehen? "Wenn man relativ klein ist und eine Großmacht Ambitionen in der Region hat, hat man schnell einmal ein Problem", sagt Zimmerer. Entweder beugt man sich dann dem Willen der regionalen Großmacht oder sucht sich Unterstützung woanders, erklärt der Historiker der Universität Hamburg und nennt dabei Kuba als Beispiel.

Problemfall Kongo

Oder, so Zimmerer, man tut sich wie die geschwächten europäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen, um nicht unter die Fuchtel der beiden Supermächte USA und Sowjetunion zu kommen. Auf der anderen Seite nennt er den Kongo, dessen Ressourcenreichtum ein Fluch ist, weil es dadurch so interessant für größere Länder ist. "Das Land wird in seiner eigenständigen Entwicklung immer wieder zurückgeworfen, weil sich andere Staaten auf der Suche etwa nach Rohstoffen einmischen", sagt Zimmerer.

Mitte Mai war die Situation in Nouméa noch weitaus brenzliger.
AP/Nicolas Job

Was die Aufarbeitung des Kolonialismus betrifft, gibt es noch einiges zu tun, sagt der Deutsche, auch wenn es seit der Jahrtausendwende zu Fortschritten gekommen sei. Derzeit spüre man aber eine Gegenbewegung, so Zimmerer: "Durch den Ukrainekrieg ist der Westen als idealisiertes Gebilde wiederauferstanden, den man nicht schlechtreden soll, indem man auf Verbrechen in der Vergangenheit hinweist. Das ist natürlich Unsinn, denn es hat den Westen immer schon ausgezeichnet, dass er die Fähigkeit zur Selbstkritik besitzt, dass er sich sehr kritisch mit sich selbst befasst."

Ob Zimmerer es für möglich hält, dass der Kolonialismus einmal vollends aus der Welt geschafft sein wird? "Ich denke, Kolonien, Überseegebiete oder Ähnliches wird es immer weniger geben, es werden neue Formen der Zusammenarbeit kommen. Für Europa wäre es ein Schritt vorwärts, auch die letzten Territorien in die Unabhängigkeit zu entlassen, wenn deren Bevölkerung es will." Also so wie in Neukaledonien. (Kim Son Hoang, 2.6.2024)