Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann steht als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag seit Beginn des Ukrainekriegs für kantige Politik gegen Russland. Nun kandidiert sie als Spitzenkandidatin der europäischen Liberalen für das EU-Parlament. Sie fordert mehr Mut zu mehr Integration und mehr Augenmerk auf die Wirtschaft. Harte Kritik übt sie an der deutschen Ex-Kanzlerin Angela Merkel: Die sei "eine pragmatische Politikerin", aber "keine große Europäerin" gewesen.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann: "Die Wirtschaft wird als Thema wieder wichtiger. Ohne Wertschöpfung wird man weder den Sozialstaat erhalten noch bei der Umwelt innovativ sein können."
James Zabel

STANDARD: Zuerst die Überraschungsfrage, die wir allen EU-Spitzenkandidaten stellen. Welches Auto fahren Sie privat?

Strack-Zimmermann: Ich habe einen Audi A5 Cabriolet. Was sagte die grüne Kollegin? Sie hat drei Fahrräder?

STANDARD: Nein, Terry Reintke hat einen Führerschein, aber noch nie ein Auto besessen.

Strack-Zimmermann: In dieser Generation nichts Ungewöhnliches. Viele von ihnen, vor allen Dingen, wenn sie in der Stadt wohnen, sind an einem eigenen Auto gar nicht interessiert.

STANDARD: Was war der Grund für Ihre Wahl, einen Verbrenner?

Strack-Zimmermann: Ich fahre einfach gerne Audi, nutze ihn aber nur für lange Strecken. Ich sitze sehr gut in diesem Wagen und fahre am liebsten offen.

STANDARD: Am Beispiel Auto lässt sich gut zeigen, wie schwierig die Umsetzung der europäischen Politik des Green Deal und der Energiewende ist. Es steht für Industrie und Wirtschaft, Millionen Jobs, Wohlstand, wegen der Klimakrise soll es eine Abkehr vom Verbrenner geben. Wie sehen Sie das?

Strack-Zimmermann: Das Auto steht vor allem für individuelle Mobilität. Und das hat natürlich eine globale Dimension. Deutschland baut nach wie vor Autos, die weltweit geschätzt werden. Mobilität ist nicht Luxus, sondern dient dazu, zur Arbeit zu fahren, den Arzt aufzusuchen oder um einzukaufen. In den Großstädten sieht das etwas anders aus, vor allen Dingen, wenn man eine gute Infrastruktur vorfindet, von Bussen, Straßen und U-Bahn. In den ländlichen Gegenden ist das Auto von existenzieller Bedeutung. Es gibt Menschen, die die Wahl haben, andere, die ein Auto unbedingt brauchen.

STANDARD: Die deutschen Liberalen treten gegen starke Regulierung des Automobilsektors ein. Geht es Ihnen zu schnell?

Strack-Zimmermann: Wenn etwas klug ist, sollten wir auch schnell sein. Die ökologische Transformation ist schon da. Niemand kann ernsthaft bezweifeln, dass wir eine Klimaveränderung haben. Wenn wir an Lösungen herangehen, müssen wir aber die Frage beantworten, wie wir die Menschen mitnehmen. Man kann nicht 84 Millionen Menschen in Deutschland zum Beispiel einfach alles überstülpen. Dann kommt es zur Gegenreaktion.

STANDARD: E-Autos sind relativ teuer, für viele ein soziales Problem.

Strack-Zimmermann: Wenn wir ausschließlich auf E-Mobilität setzen, dann begeben wir uns in starke Abhängigkeit von China. Dort werden 70 Prozent aller Batterien weltweit hergestellt, auch für europäische Autohersteller. Wir sprechen uns nicht gegen E-Mobilität aus. Aber bereits heute zu verkünden, dass man in elf Jahren keine Verbrenner mehr bauen darf, ist ein Fehler. Man muss den Technikern, den Ingenieuren den Raum lassen, Mobilität von morgen zu kreieren und zu entwickeln, und kann nicht von vornherein den Verbrennungsmotor ausschließen. Wir brauchen Technologieoffenheit, keine Restriktionen.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann beim Interview in ihrem Büro in Düsseldorf: Sollte Putin bzw. Russland sukzessive die ganze Ukraine einnehmen, "haben wir ein massives Sicherheitsproblem. Wir haben 2014 kollektiv versagt mit dem Wegschauen."
James Zabel

STANDARD: Also kein fixes Aus für Verbrenner im Jahr 2035?

Strack-Zimmermann: Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein vorzeitiges Aus des Verbrenners verkündet hat. Sie war lange genug Arbeitsministerin in Deutschland, um zu wissen, wie bedeutend die Automobilindustrie für unsere Wirtschaft und damit auch für unsere Arbeitsplätze ist.

STANDARD: Ging von der Leyen zu weit?

Strack-Zimmermann: Sie hat rein grüne Politik gemacht. Wir müssen immer Lösungen anstreben, zügig, aber Schritt für Schritt. Und natürlich stellt jede Partei ihre Maximalforderungen. Aber wir sollten dabei immer im Auge behalten, was technisch möglich ist.

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, dass Wirtschaftsthemen zu kurz kommen?

Strack-Zimmermann: Die Wirtschaft ist das zentrale Thema für den Fortbestand und den Erfolg der Europäischen Union. Wir brauchen einen Binnenmarkt, der eine Kapitalmarktunion ermöglicht. Wir brauchen ein europäisches Einwanderungsrecht, damit Unternehmen, die in ihren Heimatländern Fachkräfte aus anderen Ländern einstellen, diese auch innerhalb Europas versetzen können. Wir verlieren ansonsten den Ideenreichtum und diejenigen, die innovativ sind. Sie verlassen diesen Kontinent und gehen in die Vereinigten Staaten, wo man Innovationen sehr offen gegenübersteht. Europa braucht wieder mehr Wertschöpfung. Europa muss wieder konkurrenzfähig sein. Ohne Wertschöpfung wird man weder den Sozialstaat erhalten können noch bei der Umwelt innovativ sein können. Beides bedingt einander.

STANDARD: Die Liberalen waren auf EU-Ebene immer eine treibende Kraft für mehr Integration. Hans-Dietrich Genscher etwa verlangte 1987 mit einem Memorandum die Einführung des Euro. Damals visionär. Wo ist dieser Geist heute?

Strack-Zimmermann: Ich glaube an dieses Europa, sonst würde ich auch mein Mandat im Bundestag nicht gegen ein Mandat im Europaparlament eintauschen. Genschers Worte "Europa ist unsere Zukunft, wir haben keine andere" treffen den Kern der europäischen Idee. Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, François Mitterrand, Jacques Delors, alles bedeutende europäische Politiker, welche die großen Antreiber und Ideengeber der gemeinsamen Union waren, hatten das Glück, dass es keine sozialen Netzwerke gab, sondern sie in Ruhe diese Union aufbauen konnten, ohne dass Sekunden später alles kaputtgeredet wurde, bevor es überhaupt an den Start ging.

STANDARD: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat seit 2017 einige "große Pläne" zu mehr "europäischer Souveränität" vorgeschlagen, aber Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel ließ ihn auflaufen. Wieso fällt Deutschland heute als Partner bei Zukunftskonzepten aus?

"Frau Merkel war keine große Europäerin. Sie war nur eine pragmatische Politikerin, eine Verwalterin", kritisiert Marie-Agnes Strack-Zimmermann die deutsche Ex-Kanzlerin. Es fehle an Mut, an Leuten, die für Europa brennen.
James Zabel

Strack-Zimmermann: Ich kann Ihnen nicht widersprechen. Als Macron gewählt wurde, war ich total begeistert. Das war ein sehr emotionaler Augenblick, als in Paris am Wahlabend die Europahymne gespielt wurde. Frau Merkel hat diese Bilder nicht produziert. Sie hat mehr den pragmatischen Ansatz gesucht.

STANDARD: Eine Verwalterin?

Strack-Zimmermann: Nicht nur das. Sie hat Stimmungen erspürt, um sich dann an die Spitze der Bewegungen zu setzen. So kann man das natürlich machen und ist damit immer bei den Gewinnern. So war das beim plötzlichen Atomausstieg nach Fukushima und beim Ausstieg aus der Wehrpflicht. Sie hat aus der Lage heraus entschieden, nicht aus dem inneren Kompass heraus, den Politikerinnen und Politiker haben sollten. Heute fällt uns diese Politik krachend vor die Füße.

STANDARD: Es gibt den Spruch, dass Deutschland sich von den USA schützen ließ, mit Gas und Öl aus Russland günstig produzierte, was dann in China lukrativ verkauft wurde.

Strack-Zimmermann: Dies ist nicht nur ein Spruch, dies entspricht der Realität. Das ist nun vorbei. Das gehört auch zur Zeitenwende dazu. Ich bin sicher, die politische Einordnung der Ära Merkel und der Folgen daraus wird neu geschrieben werden müssen. Vielleicht aus ihrer Vita heraus hat sie gelernt, dass es vor allen Dingen wichtig ist, den Wohlstand zu organisieren, die Bürgerinnen und Bürger im Glauben zu lassen, alles ist gut und bleibt gut. Inwieweit der Bundeskanzler Olaf Scholz europäisch denkt, vermag ich nicht wirklich zu beurteilen. Wichtig wäre es vor allen Dingen, gemeinsam mit Frankreich den Weg zu weisen, denn die europäischen Staaten schauen genau hin, was wir wollen und welchen Weg wir bereit sind einzuschlagen.

STANDARD: Damit sind wir beim Thema Krieg, Ukraine und Sicherheitspolitik. EU-Partner fordern, dass Deutschland militärische Führung zeigen soll. Wie sehen Sie das?

Strack-Zimmermann: Die Aussage des ehemaligen polnischen Außenministers Radosław Sikorski lautete bereits 2011: "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit." Über Jahrzehnte hat sich Deutschland auf die Vereinigten Staaten verlassen, viel Geld in die Hand genommen, um sich im Positiven einzubringen und ansonsten ausgesprochen zurückhaltend verhalten. Merkel hat diese Politik fortgesetzt, auch 2014 nach der Annexion der Krim und dem Angriff auf den Donbass und darüber hinaus noch die Verhandlungen über Nord Stream 2 mit Putin fortgeführt. Anstatt deutlich und sichtbar Position zu beziehen.

STANDARD: ... mit dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, heute Bundespräsident.

Strack-Zimmermann: Es waren die Außenminister Steinmeier, Sigmar Gabriel und Heiko Maas, die in den Jahren 2016 bis 2021 diese Politik befördert haben. Herr Steinmeier hatte sogar die Traute, der Bild am Sonntag im Kontext einer Nato-Übung in Osteuropa mit Blick auf Russland zu sagen: "Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen." Unfassbar. Jetzt bekommen wir die Quittung.

STANDARD: Welche Quittung?

Strack-Zimmermann: Wenn Putin mit seinem imperialistischen Angriff auf die Ukraine Erfolg hat und die ganze Ukraine sukzessiv einnimmt, werden wir alle in Europa davon betroffen sein. Dann wird es nicht der letzte Krieg gewesen sein. Georgien und Moldau sind ebenso hochgefährdet, auch von Russland eingenommen zu werden. Wir haben 2014 kollektiv versagt, indem wir weggeschaut und mehr durch dröhnendes Schweigen denn durch klare Stellungnahme Russland gegenüber aufgefallen sind. Der Angriff auf die Ukraine 2022 hat alles auf den Kopf gestellt. Wir wussten, in dem Moment ist nichts mehr so, wie es war, und dass unsere Einstellung, der Ukraine keine Waffen zu liefern, der Vergangenheit angehört. Denn dieser Krieg greift auch unsere Freiheit in Frieden an.

STANDARD: Was folgt daraus?

Strack-Zimmermann: Ich kann nur für das werben, wofür wir uns als Liberale immer schon eingesetzt haben, dass wir eine europäische Verteidigungsunion aufbauen sollten. Es bedarf dazu aber eines grundsätzlichen Vertrauens untereinander, wenn man eigene Kompetenzen möglicherweise an den Nachbarstaat abgibt.

STANDARD: Bräuchte es heute ein Memorandum zur Schaffung einer europäischen Armee?

Strack-Zimmermann: Um eine europäische Armee aufzubauen, braucht man in der Tat einen Plan. Das betrifft allerdings in meinen Augen nicht die nukleare Teilhabe. Wir sind in die Nato eingebettet. Die Nato ist unser Rückgrat und auch unser nuklearer Schutzschirm. Von den 32 Nato-Staaten sind 23 auch Mitglied in der EU.

Sicherheitspolitik sei Abwägung, findet die liberale Kandidatin. Die Europäer müssten sich einer eigenen Verteidigungsgemeinschaft annähern, "aber die Nato bleibt das Rückgrat unserer Sicherheit".
James Zabel

STANDARD: Was ist also an europäischer Militärpolitik möglich?

Strack-Zimmermann: Der europäische Pfeiler in der Nato wird in Zukunft stärker sein müssen und sich auch an den Kosten der Nato deutlich mehr beteiligen müssen. Wenn Franzosen und Deutsche einen Plan für eine gemeinsame europäische Armee ausarbeiteten, wäre ich dafür Feuer und Flamme. Es gibt aber auch EU-Staaten wie zum Beispiel Österreich, die der Nato mit großer Skepsis begegnen.

STANDARD: Was ist ihre Einschätzung zur Ukraine?

Strack-Zimmermann: Wir müssen die Ukraine weiterhin und noch deutlicher unterstützen, mit Munition und Luftabwehrsystemen. Darüber hinaus sollten wir ihr die Möglichkeit geben, auch die Waffen einzusetzen, um auf russischem Territorium Raketenbasen anzugreifen, von denen immer wieder Tausende von Raketen auf die Ukraine abgeschossen werden. Wir müssen uns alle darüber im Klaren sein, wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, wird es erstens nicht der letzte Krieg in Europa gewesen sein, weil Putin sich in seinen imperialistischen Vorstellungen bestätigt fühlt. Und zweitens, ganz Europa wird es mit einem riesigen Flüchtlingsstrom zu tun bekommen. Es sind bisher sechs Millionen Ukrainer auf der Flucht. Noch leben mehr als 30 Millionen in der Ukraine, ein Großteil wird sich einer russischen Besetzung entziehen und ihr Land verlassen.

STANDARD: Soll von der Leyen Präsidentin der EU-Kommission bleiben?

Strack-Zimmermann: Wir sehen sie nicht als nächste Kommissionspräsidentin. Sie hat in den letzten fünf Jahren die Bürokratie auf den Höchststand gebracht, die Wirtschaft damit in Europa an die Kette gelegt und ihr die Innovationskraft genommen. Sie hat reine grüne Politik umgesetzt. Sie hat sich nicht um den Arbeitsmarkt in Europa gekümmert, sondern klein-klein alles regeln lassen. Sie trägt damit die Mitverantwortung dafür, dass viele Unternehmen inzwischen Europa verlassen haben. Die meisten in Richtung USA.

STANDARD: 2019 haben die Liberalen mit Christ- und Sozialdemokraten für von der Leyen gestimmt, das Arbeitsprogramm der Kommission mitgetragen. Diesmal nicht?

Strack-Zimmermann: Ich hoffe sehr, dass wir bei den Wahlen 2024 die Rechts- und Linksradikalen im Parlament klein halten. Frau von der Leyen hat sich inzwischen, ohne rot zu werden, dazu bekannt, sich auch von Giorgia Meloni zur Kommissionspräsidentin wählen zu lassen, wissend, dass diese die Vorsitzende einer postfaschistischen Partei ist. Mit radikalen Parteien darf es keinen Millimeter Spielraum für eine Zusammenarbeit geben. Es ist völlig ausgeschlossen, dass wir Antieuropäern den Raum geben und mit ihnen zusammenarbeiten. (Thomas Mayer, 31.5.2024)