Psychotherapeut Hans-Otto Thomashoff und Familienberaterin Sandra Teml-Wall beantworten Fragen von STANDARD-Leserinnen und -Lesern zu den Themen Familie, Beziehung und Erziehung.

Eine Teenagerin sitzt auf dem Sofa und schimpft mit ihrer Mutter, diese erhebt den Zeigefinger
Wenn Drohungen und Strafen nichts mehr nützen, sind Eltern meist verzweifelt und ratlos.
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Frage:

"Meine Tochter ist elf Jahre alt und geht in die erst Klasse ins Gymnasium. Seit letzten Sommer ist irgendwas passiert. Sie ist teilweise aggressiv in ihrem Verhalten. Sie verweigert sich, Dinge zu tun, die ich ihr sage, oder redet frech zurück. Das ist mittlerweile unser Alltag geworden. Wenn ich sage: Bitte geh nicht mit den dreckigen Schuhen in die Wohnung, lacht sie und geht weiter. Nun kommt es immer wieder auch zu vulgären Beschimpfungen. Sie sagt dann: "Fick dich" oder "Halt die Fresse".

Ich bin alleinerziehend, arbeite Vollzeit und habe wirklich viel Stress im Leben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich deswegen bei der Erziehung nicht streng genug war. Aus einem schlechten Gewissen heraus? Wegen der Trennung vom Vater vor zwei Jahren oder weil ich wenig Zeit habe für sie. Ich tue alles, was ich kann, damit es ihr gutgeht. Wir haben eine schöne Wohnung, sie hat viele Freunde, darf zum Tanzunterricht, bekommt Nachhilfe, wir machen viele Ausflüge oder fahren in den Urlaub. Ihr fehlt es wirklich an nichts, und ich gebe jeden Cent für sie aus.

Ich versuche auch wirklich auf Augenhöhe mit ihr zu sprechen und ihr viele Freiheiten zu geben, aber bei Schimpfwörtern kann ich nicht ruhig bleiben. Ich drohe ihr dann mit Hausarrest, Handyverbot usw. Neulich hat sie gesagt "Du blöde Bitch", da habe ich sie am Arm gepackt und gesagt, wenn sie mich noch einmal beschimpft, kann sie ihre Sachen packen und zu ihrem Vater ziehen. Sie hat dann geweint, aber am nächsten Tag war wieder das Gleiche: bockiges Verhalten und schnauzige Antworten.

Ich frage mich nun: Ist sie vielleicht schon in der Pubertät, und ist das normal? Wie reagiere ich, wenn sie mich beschimpft oder verweigert? Mit Strafen komme ich ja offenbar nicht weit."

Antwort von Sandra Teml-Wall:

Ihre Frage hat mich in der Komplexität sehr nachdenklich gemacht. Ich möchte mich zuerst Ihnen zuwenden: Ich glaube nicht, dass Sie zu nachgiebig oder zu streng waren und dass das, was Ihre Tochter jetzt zeigt, ein Ergebnis davon ist. Ich glaube vielmehr, dass Sie – bildlich gesprochen und so, wie Sie schreiben – alles in Ihre Tochter hineininvestieren und jetzt überhaupt nicht verstehen können, dafür keine Anerkennung oder sogar Respekt zu bekommen. Stattdessen bekommen sie das Gegenteil davon, nämlich Beschimpfungen. Das empört Sie!

Das Fatale an bedeutsamen Beziehungen ist, dass wir einander produzieren. Ihre Tochter schafft es, dass Sie sich wie jemand verhalten, auf den die Beschimpfungen zutreffen könnten. Und dann fühlen Sie sich schlecht, fallen immer tiefer in den emotionalen Brunnen und strengen sich noch mehr an, eine gute Mutter zu sein. Ein Teufelskreis.

"Gut genug beginnt mit einem: Genug." Sandra Teml-Wall, Familienberaterin

Leider ist gut gemeint nicht automatisch gut getan. Lassen Sie uns Hypothesen bilden: Was, wenn Ihre Tochter sieht, was Sie leisten und Ihnen mit ihrem Verhalten signalisieren will: "Mama, hör auf damit! Es ist genug! Es ist gut!" Was, wenn Ihre Tochter nicht Ihre Selbstaufgabe will, sondern eine Mama, die gut auf sich aufpasst? Was, wenn Ihnen Ihre Tochter signalisieren will, dass Ihre Erziehung gefruchtet hat und Sie sich ein Stück zurücklehnen können? Können Sie diese Hypothesen auch für einige Momente wahr sein lassen? Neulich habe ich einen Satz gelesen, den ich gerne mit Ihnen teilen möchte: "Gut genug beginnt mit einem: Genug."

Sandra Teml-Wall, Familienberaterin
Sandra Teml-Wall ist Paarcoach, Elternberaterin nach Jesper Juul, Mutter von drei Kindern und Bestsellerautorin. Sie setzt sich nachhaltig für einen emotionalen Klimawandel in Familien ein und praktiziert in der "Wertschätzungszone" in Wien. Bekannte Bücher: "Mama, nicht schreien!" (2022), "Keine Angst, Mama!" (2021), "Ent-Eltert euch!" (2023) gemeinsam mit Ehemann Martin Wall.
Theresa Pewal

Nicht gesehen zu werden und sogar geschimpft zu werden tut weh. Es tut Ihnen weh und Ihrer Tochter auch. Sie können Ihrer Tochter sagen: "Mir gefällt es nicht, wenn du mich beschimpfst, und ich will, dass du damit aufhörst. Damit das gelingt, will ich sehr gerne wissen, womit ich dich so wütend gemacht habe!" Die Voraussetzung für so ein Gespräch ist, dass Sie entspannt und gefasst im "grünen Bereich" sind und bereit sind, die Wahrheit Ihrer Tochter "zu halten", dafür einen Raum zu schaffen. Das ist ein mutiger Schritt, aus dem Sie viel über sich und Ihre Tochter lernen können.

Solche Gespräche schaffen Verbindung und den Nährboden für Kooperation. Sie beide dürfen jetzt gemeinsam lernen, in Ihrem Zusammenleben die Bedürfnisse nach Autonomie und Verbindung wieder neu auszubalancieren und auszuverhandeln.

Vielleicht ist noch eine Frage offen: Wer sieht Sie? Wer schafft Raum für Ihren Schmerz, für Ihre Wut? Wer hält Sie und Ihre Emotionen? Dafür brauchen Sie nämlich auch Zeit (und ich meine Ihre Tochter würde jetzt mit dem Kopf nicken). Ich hoffe sehr, dass Sie einen Erwachsenen an Ihrer Seite haben, eine gute Freundin oder eine professionelle Beraterin, die Ihnen Raum gibt für all das, was Sie in den letzten Jahren erlebt haben. Halten, ohne zu kommentieren oder Sie zu bemitleiden. Menschen, die Sie in Ihren Möglichkeiten wahrnehmen. Die Ihnen Raum geben, es zu erzählen – um es gut sein zu lassen und nachvorne zu schauen. (Sandra Teml-Wall, 29.5.2024)

Antwort von Hans-Otto Thomashoff:

Gleich das Wesentliche vorweg: Auch Eltern haben ein Recht darauf, respektvoll behandelt zu werden. Erziehung bedeutet nicht, Kindern jeden Wunsch von den Augen abzulesen und zu erfüllen, sondern Erziehung besteht darin, Kindern vorzuleben, wie man gut im Leben zurechtkommt und wie man sich das Leben im Rahmen der realen Möglichkeiten erfüllend gestaltet.

"Eltern müssen sich nicht für ihre Kinder aufopfern!" Hans-Otto Thomashoff, Psychiater

Das ist heutzutage alles andere als einfach, weil wir von Medien, Ratgebern und in der Konkurrenz mit anderen Eltern suggeriert bekommen, wir müssten uns für unsere Kinder aufopfern. Das ist falsch. Denn dann lernen unsere Kinder genau das, opfern sich später ebenfalls für ihre Kinder auf oder bekommen erst gar keine. Erschwerend kommt hinzu, dass wir Menschen von Natur aus in Horden leben und damit alleinerziehend zu sein eine Zusatzbelastung darstellt, erst recht wenn Sie voll berufstätig sind.

Ihr schlechtes Gewissen ist allerdings kein guter Ratgeber. Es ist lieb gemeint, dass Sie jeden Cent für Ihre Tochter ausgeben. Aber es ist zu viel des Guten, denn so sehr Sie sich auch bemühen, sind Sie damit kein gutes Vorbild, weil Sie sich selbst vernachlässigen. Zugleich bekommt Ihre Tochter damit eine Sichtweise auf die Welt vermittelt, dass ihr wie selbstverständlich alles zusteht – eine Perspektive, die ihr früher oder später auf den Kopf fallen wird.

Was folgt nun daraus praktisch?

Hans-Otto Thomashoff, Psychotherapeut
Hans-Otto Thomashoff ist Psychiater, Psychoanalytiker, zweifacher Vater und Autor. Er ist Aufsichtsratsmitglied in der Sigmund-Freud-Privatstiftung und als Kunsthistoriker auch Präsident der Sektion für Kunst und Psychiatrie des Weltpsychiaterverbands. Bekannte Bücher: "Damit aus kleinen Ärschen keine großen werden" (2018), "Versuchung des Bösen" (2022).
Regina Schulz

Zuerst einmal sollten Sie abklären, ob Ihre Tochter sonst – zum Beispiel in der neuen Schule – irgendwelche Probleme hat, die sie durch ihr aggressives Verhalten kaschiert. Sie sollten dazu das Gespräch mit ihr suchen und sehen, wie Sie ihr gegebenenfalls helfen können. Auch ein Blick auf den Freundeskreis der Tochter kann eventuell augenöffnend sein dafür, warum sie sich jetzt so verhält. Ich kenne viele Lehrer, die ein Lied davon singen können, wie ansteckend es ist, wenn sich in der Klasse einige flegelhaft verhalten, und wie häufig das inzwischen in den Schulen vorkommt.

Ansonsten gilt: Benehmen muss man lernen, Benehmen darf und sollte beigebracht werden, ohne schlechtes Gewissen. Die Beziehung zu einem Kind ist eben auch eine Beziehung, in der beide Seiten Bedürfnisse haben und haben dürfen. Auch wenn es Sie Zeit und Nerven kostet, müssen Sie Ihrer Tochter klarmachen, was Sie sich unter einem normalen Umgang miteinander unter Ihrem Dach vorstellen, und ihr deutlich machen, wie das für Sie ist, wenn Sie sich so aufführt. Bin ich dir egal? Wie wäre das, wenn ich dich so behandeln würde?

Sie müssen also klar sagen, was Sie für angemessen halten und was nicht. Beschimpft werden gehört sicher nicht dazu. Auch nicht in der Pubertät, die sicher schon ihre Vorboten sendet. Gut wäre es, wenn Sie sich trotz der Trennung mit dem Vater der Tochter darin einig wären, das würde die Sache für Sie erleichtern.

Außerdem sollten Sie darauf achten, gut für sich selbst zu sorgen. Was spricht dagegen, dass Sie sich eine Auszeit gönnen, in der Ihre Tochter zu ihrem Vater geht? Das gibt Ihnen die Zeit, einmal wieder aufzutanken, und vielleicht schätzt Ihre Tochter dann wieder mehr, wie gut sie es bei Ihnen hat. (Hans-Otto Thomashoff, 29.5.2024)