Herbert Prohaska
"Old Schneckerl" Prohaska wird vom Lagerfeuer aufstehen und "Gute Nacht" sagen.
APA/GEORG HOCHMUTH

Wien – Die Episode hat sich erst kürzlich zum zehnten Mal gejährt. Im April 2014 mokierte sich Jürgen Klopp, seinerzeit noch beliebter Trainer von Borussia Dortmund, aber noch weit weg vom Legendenstatus, den er sich beim FC Liverpool erwerben sollte, über eine etwas platte Frage eines ZDF-Reporters infolge einer 0:3-Niederlage in der Champions League bei Real Madrid. Klopps Gegenfrage ("Denken Sie, ich bin ein Idiot?") löste kaum Kritik am Trainer, sondern eine grundsätzliche Diskussion über die fachliche Qualität der Sportberichterstattung vor allem im Fernsehen aus.

"Wie peppig, wie populär darf er denn sein, der Fußball im TV, wie fachmännisch sollte er kommentiert werden?", fragte der Spiegel und verwies einerseits auf den Mangel an Experten, die mit ihren Analysen für Taktikaspekte interessieren und komplexe Vorgänge mit einfachen Worten erklären können, und andererseits auf die Zwänge, denen Trainer im modernen Mediengeschäft unterliegen. Sie hätten so vielen so viele Antworten zu geben, dass schlicht nicht jede von Interesse sein könne.

Masse, Klasse

Am seinerzeitigen Befund, die in die Berichterstattung eingebaute Expertise betreffend, ist insofern viel im Fluss, als der Fußball Jahr für Jahr mehr zu einem Objekt der Wissenschaft wird und das auch in seine Rezeption aufgenommen werden muss. Kaum ein Medium, das viel Geld in Übertragungsrechte investiert, spart dann guten Gewissens an Expertenwissen, weshalb der eine Analytiker an der Seite des Kommentators, der Kommentatorin nicht mehr genügt.

Servus TV, der erste Privatsender, der sich in Österreichs Fernsehgeschichte zum Rechtehalter einer Fußball-EM aufschwang, protzt bei der am 14. Juni anhebenden Endrunde in Deutschland mit 120 Stunden Liveberichterstattung und gleich sechs Analytikern: mit dem bewährten Duo Jan Age Fjörtoft / Steffen Freund sowie mit Zlatko Junuzovic, Martin Harnik, Florian Klein und Sebastian Prödl, also vier ehemaligen österreichischen Teamspielern. Sie alle natürlich nur zusätzlich zu den mittlerweile obligaten Regelkundigen, die Schiedsrichterentscheidungen aufdröseln und beurteilen, sowie zur Kommentatoren- und Reporterinnen-Riege.

"Gute Nacht"

Ob mit diesem Aufwand jene Qualitätssteigerung punkto "Fußballerklärung" in Österreich gelingt, wie sie mit Blick ins benachbarte Ausland gerne moniert wird, dürfte im Auge der Betrachterin, des Betrachters liegen. Servus TV zeigt 31 Partien der EM, darunter das Eröffnungsspiel, die beiden Halbfinale, das Finale sowie in jedem Fall alle Auftritte der österreichischen Nationalmannschaft. An den ORF wurden 20 Spiele abgetreten.

Zumindest am Rechteerwerb wurde beim ehemaligen Haussender des Fußballbundes ÖFB, der immerhin 60 Stunden live drauf ist, etwas gespart, die Analytik-Riege dagegen um eine Frau, die ehemalige Teamkapitänin Viktoria Schnaderbeck, erweitert. Daneben analysieren wie gehabt Roman Mählich und Helge Payer, nicht nur das letzte Wort ("Gute Nacht") hat Chefanalytiker Herbert Prohaska, der seit mehr als 20 Jahren einschlägig im Einsatz ist.

Kritik an Prohaska

Von Großereignis zu Großereignis wird Kritik an der Rolle des ehemaligen Teamchefs und seiner angeblich zu vereinfachenden, ja unwissenschaftlichen Sicht der Dinge lauter. Diese Kritik läuft für Rudolf Müllner ins Leere. "Prohaska ist als Analytiker gar nicht fassbar, das ist aber auch egal, er braucht keine Tiefenschärfe", sagt der Historiker und Sportwissenschafter am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Wien.

Alleine die Anwesenheit des österreichischen Jahrhundertfußballers sei beruhigend. Müllner: "Er steht über den Gesetzmäßigkeiten. Prohaska ist auf einer Insel der Indifferenz, wo die Sympathie zu Hause ist. Der gibt die Geborgenheit am Lagerfeuer wie Old Shatterhand, die Sicherheit einer Vaterfigur, aber dazu noch mit Schmäh. Er sagt oft das Offensichtliche, das genügt. Wichtig ist einfach nur sein Dasein, mit seiner ganzen großen Geschichte, die er in sich trägt. Damit verweist er auf etwas Wichtigeres, etwas, das über den Fußball hinausweist. Die tatsächliche Analysearbeit obliegt den Ministranten Mählich und Payer."

Gschichtldrucker passé

An die Analyse durch unmittelbar Beteiligte selbst werden andere Maßstäbe angelegt. In Österreich traditionell etwas nachsichtiger als etwa in Deutschland, allerdings löste schon vor etlichen Jahren die Bemerkung eines situationsbedingt angespannten Teamchefs, dass Taktik generell überbewertet sei, Kopfschütteln aus. Das Trainerpersonal unterliegt gemäß Sporthistoriker Müllner ähnlichen Zwängen wie die Berichterstattung über den Sport. "Fußball funktioniert ganz wesentlich über Emotionen und Emotionalisierung, es funktioniert über Unterhaltung, wie auch in der Politik."

Es sei bezeichnend, "dass bei der Teamchefbestellung in der Öffentlichkeit kaum über ein Anforderungsprofil für diesen Job diskutiert wurde", sagt Müllner. "Die Bestellung von Ralf Rangnick war da ein gewisser Bruch. Er gilt als rationaler Analytiker, verfügt aber auch über ein gewisses Charisma. Vielleicht ist dafür der Unterhaltungswert überschaubar, aber die Zeit der reinen Gschichtldrucker à la Max Merkel ist endgültig vorbei." Das sei schon bei Marcel Koller ganz ähnlich gewesen. "Da hatte man auch immer das Gefühl, dass er seine Zahlen, seine Statistiken beisammen hat. Nationale Stereotypen spielten und spielen da eine Rolle, der eine ist schließlich Schweizer, der andere Deutscher."

In der Euphorie-Falle

Aber selbst wenn sich Gewissenhaftigkeit und Expertise auf das Glücklichste paaren, wohnen der angeblich schönsten Nebensache der Welt Unwägbarkeiten inne. "Fußball ist durch die Datenmassen, die verarbeitet werden, gläsern geworden. Aber das Schöne ist, dass diese Daten nur eine Scheinobjektivität bieten", sagt Müllner. Der Sporthistoriker verweist auf den deutschen Soziologen Hartmut Rosa, der den Begriff der "Unverfügbarkeiten" geprägt hat. "Er meint damit, dass selbst in unserer aufgeklärten Moderne viele essenzielle Dinge nur bedingt steuerbar sind. Krankheit und Gesundheit zum Beispiel oder das Klima."

Fußball sei so gesehen nur ein Modell für die Unwägbarkeiten der Welt. Ein schönes aktuelles Beispiel ist für Müllner Stürmer Ademola Lookman von Atalanta Bergamo, der im Europa-League-Finale Bayer Leverkusen drei Tore einschenkte. Das könne man nicht berechnen, "das Spiel hat zu viele Faktoren". Die totale Kontrolle gelinge gerade im Fußball nie. "Deswegen ist er ein Weltmodell, und deswegen schauen wir so fasziniert hin, und deswegen reden wir immer und immer wieder darüber."

Expertinnen können den Gesprächsstoff im besten Fall bereichern. Recht knapp fällt dagegen Müllners EM-Prognose für die Österreicher aus: "Einerseits haben wir die Verletzungen, andererseits die Intuition eines Arnautovic. Prinzipiell glaube ich aber, dass wir vielleicht wieder in einer Euphorie-Falle sind." (Sigi Lützow, 3.6.2024)