Kolumne Mittel-Alter Satire ÖBB
Der Zug der Zeit fährt mitunter in gänzlich unerwartete Richtungen: Reinhold Lopatka (ÖVP) verlässt den Kopfbahnhof Wien und macht sich allmählich in Richtung Brüssel auf den Weg.
APA/EVA MANHART

Mutter Erde keucht unter der Last des Klimawandels. Sie schwitzt Monsunregen und bewegt Erdklumpen. Es ist fünf vor zwölf. Mithin der ideale Zeitpunkt, um unsere Kulturlandschaft lieber doch nicht zu renaturieren.

Noch ist nicht jedes Fitzelchen Land versiegelt. Inmitten von Umwälzungen gigantischen Ausmaßes ruhig zu bleiben, kühlen Kopf zu bewahren: Es ist dieser Mut zum Phlegma, der unser Land – mit all seinen Einrichtungen – vor Anwandlungen von überstürztem Aktionismus feit. Ein wahrer Fels in der Klimaschmelze ist dabei die ÖBB. Während man sich andernorts um die Maximierung des öffentlichen Verkehrs bemüht, setzt die Bahn eisern – oder zumindest blechern – auf unumgänglich Bewährtes.

Denn während überall sonst das Bedürfnis nach neuen, peinlich sauberen Vehikeln wächst, teilt die ÖBB mobile Notrationen aus. An den Gebrauchsspuren ihrer alten S-Bahn-Garnituren erweist sich ihr Geschichtsbewusstsein: In diesem verquicken sich die Anforderungen von heute mit dem inkrustierten Schmutz von vorgestern – nicht zu vergessen der dabei entstandene Hitzedampf. Wer Glück hat, erkennt die Gerüche vergangener Epochen wieder – und hat ein Marcel-Proust-Erlebnis.

Schmachten in Skopje

Als Babyboomer an der Schwelle der Ära Sinowatz bereiste ich Europa begeistert mit der Bahn: unvergesslich eine 40-Stunden-Fahrt nach Athen, eingekeilt zwischen Hühnerkäfigen, wobei die niedlichen Nutztiere an meiner Anwesenheit mehr Anstoß nahmen als ich an ihnen. In der glühenden Mittagssonne von Skopje harrte die Zuggarnitur drei Stunden aus; alles Wasser war verdampft, die Elvis-Costello-Kassette im Walkman eierte, man bekam einen unvergesslichen Eindruck von Fegefeuer und Ewigkeit.

Letzterer arbeitet die ÖBB zu, wenn ihre rostigen Intercity-Schlangen mit 40-minütiger Verspätung aus dem Kopfbahnhof gekrochen kommen: wegen der geheimnisvollen "Änderung" irgendwelcher "Betriebsabläufe". Man meint, die Dinge würden sich niemals ändern. Es ist geradezu, als würde die ÖVP mit einem Spitzenkandidaten Reinhold Lopatka in die EU-Wahlen gehen. (Ronald Pohl, 29.5.2024)