Gras, Leuchtturm, Wolken
Der Leuchtturm Timmendorf ist seit 1871 in Betrieb.
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Wenn der diensthabende Himmelszeltverleiher einen besonders klaren, besonders blauen Baldachin über die Ostsee spannt, rufen Boltenhagen, Heiligendamm, Warnemünde, Usedom und Rügen um die Wette, um uns an die Küste Mecklenburg-Vorpommerns zu locken. Durch den Chor dieser touristischen Schmachtfetzen dringt kaum vernehmbar, eine leise, aber beharrliche Stimme, die ein Date mit blühenden Rapsfeldern, langen Sandstränden, hübschen Häfen und sehr viel Ruhe verspricht. Poel lautet der Name des Ortes, an dem einen all diese Verheißungen erwarten, und das Beste – Poel ist eine Insel, und denen, das weiß doch jeder, wohnt ein ganz besonderer Zauber inne.

Knapp zehn Kilometer nördlich von Wismar gelegen, ist Poel über einen schmalen Damm mit dem Festland verbunden. Auf der anderen Seite empfängt ein Schild die Inselgäste mit den plattdeutschen Worten "Peul – wat för Luftsnappers". Luftschnappen und das wohltuende Inselklima genießen wollen sie alle, und die zuverlässige Wirkung wellenumspülter Landschaften spüren wollen sie auch, denn die lassen den Menschen heiter und gelassen werden. Begegnen sich zwei auf ihrem Spaziergang entlang des Wellensaums, grüßen sie einander freundlich und zugewandt. Eine Erfahrung, die man in Städten so schon lange nicht mehr machen kann. Poel verändert einen im Handumdrehen. Der Ackerschnacker (Mobiltelefon) bleibt ausgeschaltet, und für den Rest des Tages gilt: "Loot di Tied is ok een Walzer." – "Laß dir Zeit. Immer mit der Ruhe."

Flaches, slawisches Land

Strandkörbe, Strand, Segelboote
Timmendorf hat einen Hafen für Angler und Ausflügler und einen kleinen Strand mit Strandkörben. Die flachen Sandstrände der Insel Poel sind vor allem bei Familien mit kleinen Kindern beliebt.
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Der Inselname stammt allerdings nicht aus dem Plattdeutschen, sondern soll seinen Ursprung im slawischen "poltje", "flaches Land", haben. Er könnte sich aber auch vom altnordischen Phol herleiten, dem Namen des germanischen Lichtgottes. Ein strahlend heller Indigohimmel liefert ein starkes Argument für den göttlichen Namenspaten. So oder so schenkt das fabelhafte Insellicht gemeinsam mit sanftem Meeresrauschen, raschelndem Strandhafer und lachenden Möwen allen Poel­-Besuchern den Gegenzauber zu Feinstaub, Asphalt und LED-Sparlampen. In Städten ist es schwer, offene Flächen zu finden, Plätze, an denen man den Horizont als lange ununterbrochene Linie erfahren kann. Umringt von Hochhäusern und Mauern wird man kurzsichtig. Die Ostsee weitet den Blick wieder. Ein Ort ungestörter Fernsicht ist auch ein Symbol für Freiheit; eine Freiheit, die sich seit dem Mauerfall auf Poels 37 Quadratkilometern wieder richtig breitmachen kann.

Kein Platz für Massen

Für Turbokapitalismus und Massentourismus aber haben die Poeler keinen Platz gemacht und damit verhindert, dass ihre Insel von Kommerz kontaminiert und ihrer Besonderheit beraubt wird. Statt eines gewöhnlichen Kassenschlagers mit protzigen Hotelbauten und von Souvenir- und Imbissbuden gesäumten Strandpromenaden reichen Poel ein paar beschauliche Dörfer, samtweiche Sandstrände, ausgedehnte Salzwiesen, ein alter Küstenwald und viele Wander-, Rad- und Reitwege vollkommen aus, damit sich die Anziehungskraft ihrer Insel entfalten kann.

So beglückt Poel vor allem Menschen, denen Landschaft, Wetter und erstklassige Badebedingungen genügen. Elf Kilometer feinsandige, flach ins Meer abfallende Strände hat Poel zu bieten. Wegen der geringen Wassertiefe in Ufernähe sind vor allem die Badeorte Am Schwarzen Busch und Timmendorf Strand bei Familien mit Kindern beliebt, doch auch Wassersportler kommen zum Surfen, Kiten oder zum Wasserski dorthin. Timmendorf Hafen ist außerdem Startpunkt für Angeltouren und Ausflugsfahrten.

"Den Kopf im Wind, die Füße im Sand und ein Fernglas in der Hand", ist hingegen das Motto an der Nordspitze Poels, denn dort liegt die kleine Nachbarinsel Langenwerder, die bereits 1910 zum Schutzgebiet für Watt- und Wasservögel erklärt wurde und nicht betreten werden darf. Im Rahmen ornithologischer Führungen kann man sie von Juli bis Oktober jedoch in kleinen Gruppen erkunden, und vom Poeler Ufer aus, in Höhe des Badeortes Gollwitz, lassen sich Austernfischer, Sturm­möwen, Brandgänse, Rotschenkel und Sandregenpfeifer auch beobachten, denn Langenwerder liegt in Sichtweite. Besonders im Frühling, wenn die jährliche Partner- und Nistplatzbörse eröffnet wird, ist es vorbei mit der klösterlichen Ruhe, die sonst über dem Strand liegt. Wattwurm, Krabbe oder Schnecke möchte man hier gewiss zu keiner Jahreszeit sein.

Die Landschaft lesen

Klippe, Strand, Meer
Der Gollwitzer Strand auf der Insel Poel
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Auf Poel haben sich unzählige Uferschwalben ihre Brutröhren in die Sandschichten der bis zu zehn Meter hohen Steilküsten gegraben, die sich an der Nordseite und im Westen der Insel erheben. Unterhalb dieser Kliffs liegen viele Findlinge – Stein­giganten, die von Gletschereis über tausend Kilometer weit transportiert wurden und vor allem aus Schweden, Dänemark und Finnland stammen. "Geologie ist die Kunst, eine Landschaft rückwärts zu lesen, um ihre Entstehung zu begreifen."

Hätten unsere Geografielehrer es so schön formuliert wie der britische Autor Robert MacFarlane, würden wir anders auf Poels steinreiches Ufer blicken, dem man ansehen kann, das es durch Gletscher und Meeresmassagen geformt wurde. Granit, Feuerstein, Gneis, Kalkstein aus allen Erdzeitaltern versammeln sich hier. Die ältesten sind zwei Milliarden Jahre alt, die jüngsten lassen sich immerhin auch schon 20 Millionen Jahre lang von den ewigen Wellen glattrollen und polieren.

Zehn Sterne für diese Insel

Fossilien findet man hier eher selten, doch in den Schichten aller auf Poel gesammelten Steine, ist etwas ebenso Fabelhaftes eingeschlossen – die Magie dieser Küste. Man stößt auf kantigen Basalt, der schwer in der Hand liegt, ziegelroten Quarzporphyr mit den grauen Kristallsprenkeln und da und dort auch auf Bernstein, die begehrte Harzträne baltischer Urwaldbäume.

Wenn Wellen das Ufer hinaufklettern, durch die Gesteine wirbeln und sich dann wieder zurückziehen, klingen die kullernden Kiesel, als würden sie den Steinsammlern, die ihnen so viel Aufmerksamkeit schenken, kräftig applaudieren. Ein weiterer Moment des Glücks, der an diese Meereslandschaft geknüpft ist. Würden Inseln so wie Hotels und Restaurants mit Sternen ausgezeichnet, Poel hätte mit seiner großartigen Choreografie aus Farbe, Licht und Formen mindestens zehn verdient. (RONDO, Nicole Quint, 2.6.2024)