Der Ruck, der nach dem russischen Überfall auf die Ukrainer durch viele Länder Europas gegangen ist: In den Kasernen zwischen Cádiz und Flensburg macht er sich vorerst nicht bemerkbar. So gut wie alle EU-Länder kämpfen gegen den grassierenden Mangel an Soldaten an. Bis 2030 will Deutschland die Zahl seiner Soldaten von 181.514 (Stand Ende 2023) auf 203.000 steigern, Polen von 197.000 auf 220.000, und Frankreich, die einzig verbliebene EU-Atommacht, will künftig 275.000 statt wie derzeit 240.000 Soldaten in Uniform zur Verfügung haben. Die Frage, die nicht nur diese drei, sondern auch die meisten anderen EU-Staaten eint: Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Gerade einmal neun der 27 EU-Länder stocken die Reihen ihrer Armeen derzeit mit Wehrdienstpflichtigen auf – darunter Österreich, wo der Pflichtdienst erst 2013 per Volksbefragung bestätigt wurde. Von den aktuell 32 Nato-Mitgliedern sind es nur noch acht. Einige davon wie etwa die baltischen Staaten, aber auch Schweden und Dänemark haben als Nachbarn Russlands die Wehrpflicht nach der Annexion der Krim wieder eingeführt. Führt daran also kein Weg vorbei, will Europa wehrfähig bleiben? DER STANDARD hat sich umgeschaut.

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Im Berliner Bendlerblock, wo Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) seinen Dienstsitz hat, wurde seit der von Kanzler Olaf Scholz wegen des Ukrainekrieges ausgerufenen "Zeitenwende" über der Frage gebrütet, wer die per Sondervermögen angeschafften Waffen für die Bundeswehr denn eigentlich bedienen soll. 2011 hat das damalige schwarz-gelbe Kabinett Merkel II die Wehrpflicht ausgesetzt – formell abgeschafft wurde sie nie. Mit drastischen Folgen, die in den Kasernen zwischen Oberammergau und Amrum Lücken aufgerissen haben: Gerade einmal etwas mehr als 9000 Deutsche leisten aktuell als Freiwillige ihren Wehrdienst. Zu wenige, um die geplante Aufstockung der Personalzahl zu meistern, heißt es.

Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius will die Bundeswehr kampftauglich machen – dazu braucht er Soldaten.
EPA/TOMS KALNINS

Nun legte Pistorius einen Plan vor, wie die Bundeswehr wieder mehr Männer – oder auch Frauen – unter Waffen stellen könnte. Noch sind nur wenige Details aus dem Papier durchgedrungen, fest steht aber: In die Uniform gezwungen soll – jedenfalls vorerst – niemand werden. Stattdessen dürfte der Verteidigungsminister auf Anreize setzen, wenn sich ein junger Mann oder eine junge Frau für zwölf Monate verpflichtet: etwa einen kostenlosen Führerscheinkurs, leichteren Zugang zu Universitäten oder großzügige Studierendenkredite. Sollte dies aber nicht den gewünschten Zuwachs in den Kasernen bringen, schließt Pistorius eine Rückkehr zum Zwangsdienst nicht aus – nur für Männer, wohlgemerkt.

"Wehrpflicht light"

Apropos Frauen: Als einziges EU-Land sieht Schweden die Wehrpflicht sowohl für Männer als auch für Frauen vor. Wer 18 Jahre alt wird, der oder dem flattert ein Brief von der Musterungsbehörde ins Haus. 2010 hatte das Land die Wehrpflicht ausgesetzt, sieben Jahre später war es die damalige rot-grüne Regierung, welche die Klagen des Militärs über viel zu wenige Freiwillige erhörte. Allzu effizient verläuft die Suche nach Rekruten freilich auch heute nicht: Gut zwei Drittel der adressierten Schulabgängerinnen und -abgänger fallen schon bei den Fragen nach Vorerkrankungen durch, am Ende bleiben rund 8000 neue Soldatinnen und Soldaten pro Jahr übrig. Nach deren Grundausbildung bleiben viele davon in einer milizähnlichen Verpflichtung, je nach Sicherheitslage.

In Schweden dienen schon heute Frauen – als eines von künftig drei Ländern in Europa.
AFP/NTB/HEIKO JUNGE

Dass die Regierung die Zügel in Sachen Wehrdienst nun straffer zieht, kommt erstaunlich gut an bei der Bevölkerung: Seit dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine ist die Zustimmung zur Wehrpflicht noch einmal gestiegen, ebenso wie jene zum Nato-Beitritt des Landes. Verteidigungsminister Pål Jonson erklärte, "80 Prozent der Rekruten empfehlen anderen jungen Leuten am Ende ihres Dienstes, ebenfalls zum Militär zu gehen".

Frauen an die Waffe

Weniger von Mundpropaganda als vom Glück – oder Pech – lebt die Armee am anderen Ende der Öresund-Brücke, in Dänemark nämlich. Von den insgesamt 20.000 dänischen Soldatinnen und Soldaten sind etwa 11.000 Grundwehrdiener; weil es bisher genügend Freiwillige gibt, werden nicht alle 18-Jährigen eingezogen, sondern durch ein Losverfahren ermittelt, das etwa ein Fünftel der Wehrfähigen zur Armee holt.

Dänemarks Armee ist klein, soll aber wachsen, wenn es nach der Regierung geht.
via REUTERS/Ida Marie Odgaard

Künftig hat das generische Maskulin aber ausgedient, wenn es um Dänemarks Zugang zur Wehrpflicht geht: Um "volle Gleichstellung zwischen den Geschlechtern" zu fördern, kündigte Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, eine Sozialdemokratin, im März die Ausweitung des Wehrdienstes auf Frauen ab 2026 an – als drittes Land Europas nach Schweden und Nicht-EU-Mitglied Norwegen. In jeder vierten dänischen Armeeuniform steckt schon jetzt eine Frau. Waren es bisher vier Monate, die in Dänemark gedient werden mussten, sind es künftig elf. Frederiksen dazu: "Wir rüsten nicht auf, weil wir Krieg wollen, wir rüsten auf, um ihn zu verhindern."

Geld und PR

Große Pläne hat man in Polen. Bis 2035, so die Regierung, soll die Armee zur stärksten in Europa werden – und dem zunehmend aggressiv werdenden Nachbarn Russland die Stirn bieten können. Um mehr als zehn Prozent soll auch die Zahl der Soldaten steigen. Und das, so die Pläne, soll nicht durch Zwang geschehen, sondern durch Anreize. Die Wehrpflicht, 2009 ausgesetzt, soll laut Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz auch weiterhin der Vergangenheit angehören. Zu den 140.000 Berufssoldaten kommen derzeit noch etwa 20.000 freiwillige Grundwehrdiener sowie 35.000 Männer, die in Heimatschutzverbänden unter Waffen stehen – ihre Zahl ist seit dem russischen Einmarsch in die benachbarte Ukraine stark gestiegen.

Polens Armee setzt auf PR-taugliche Veranstaltungen, etwa ein Schießtraining in Warschau.
REUTERS/Kuba Stezycki

Die Armee setzt derweil stark auf Imagepflege: Bei sogenannten Picknicks werden Waffen präsentiert und Interessierte umworben, Schnuppertage sollen ebenso für uniformierten Nachwuchs sorgen wie die sogenannten Ferien in der Armee, bei denen junge Männer im Sommer sechs Wochen mitarbeiten und immerhin 1400 Euro Sold bekommen. Auch das Einstiegsgehalt für einen regulären Grundwehrdiener ist für polnische Verhältnisse nicht unattraktiv: 1000 Euro, krisensicher und – jedenfalls vorerst – ohne allzu hohe persönliche Risiken. (Florian Niederndorfer, 30.5.2024)