Die Rekonstruktion eines mehrfachen Kindesmordes, wobei der Mythos in der belgischen Wirklichkeit gespiegelt wird: "Medea's Kinder", von Milo Rau in Gent inszeniert.
Michiel Devijver

Das Drama rund um Medea, die prominenteste Kindesmörderin der Weltliteratur, hat noch nicht begonnen, schon soll es nachbesprochen werden. Natürlich auf offener Bühne – jener der Schouwburg, des von Milo Rau geleiteten, überaus schmucken Nationaltheaters im belgischen Gent.

Vorne an der Rampe, auf schwarzen Klappsesseln, nehmen sie Platz: sechs Kinder zwischen acht und 14 Jahren. Sie haben miteinander Theater gespielt, starken antiken Tobak.

Der mutmaßlich Älteste ist mehr noch am Handy interessiert als an einer faktenbasierten Auskunft darüber, wie er die Herausforderung einer Kussszene gemeistert habe. Nass soll sie gewesen sein. Ein Achselzucken: Die Knutscherei habe ihn in ihrer Überschwänglichkeit an seine etwas übergriffigen Großeltern erinnert. Dabei handelte es sich um den Griechenführer Jason, der die stolze Medea im Lande Kolchis überwältigt – ihr Herz im Sturm erobert.

Medeas Kinder sind aufgeweckte Zeitgenossen, die zum Beispiel ihr soeben erworbenes Wissen über Euripides hinreißend altklug zu referieren verstehen. Siehe da, plötzlich sind die begabtesten Allerjüngsten die ältesten Bühnenhasen. Auch so funktioniert Wissenstransfer: indem man die Verhältnisse vom Kopf auf Kinderfüße stellt.

Heillos überfordert

Wie so häufig betritt Theatermacher Rau den Traditionsbau des Theaters durch einen unscheinbaren Seiteneingang. Ganz alert schlüpft er durch die Pforte der Aktualität. Erst unlängst hat eine Belgierin aus Ostende – der Name tut nichts zur Sache – ihre fünf leiblichen Kinder getötet. Der Vater, ein Marokkaner, soll sie vernachlässigt haben. Die Urheberin des Massakers war mit sich und ihrem Leben heillos überfordert.

Wie um einen "Safe Space" zu schaffen, blendet Milo Rau das neueste Grauen mit dem womöglich rätselhaftesten Zeugnis ältester Menschennot ineinander.

Rau wühlt nach den Wurzeln allen Bühnenspiels. Er empfiehlt den Kindern, Maß zu nehmen am Leiden der Alten: Die Schutzbefohlenen spielen mit Medea und Jason, den Beteiligten einer auf Video gebannten Strandszene, um die Wette. Dort, wo unbegreiflicher Hass geblüht hat, soll Heilung entstehen. Die Riten der Ausschließung betrafen einst Medea, als sie Jason geehelicht hatte und ihm, dem strahlenden Helden, nach Korinth gefolgt war.

Strand mit Drachen

In unentrinnbare Isolation muss jede Mutter geraten sein, die ihre Nachkommen tötet. Bei Milo Rau hält das Theater immerzu Gerichtstag – doch es soll den Stab nicht brechen, über die Schwächsten nicht, auch nicht über die Schuldiggewordenen. Die Bestandsaufnahme Medeas Kinder lebt von lauter klitzekleinen Rekonstruktionsleistungen. Man sieht Menschen beim Ertragen von Einsamkeit: Greise, die an eine Hausmauer gedrückt erscheinen.

Man schaut dabei zu, wie Jason und Medea eine Solidargemeinschaft bilden, um auf Kolchis' Strand einen bösen Drachen zu erlegen. All das spielen die Kinder nach: die doch lediglich nachspielen, was sie selbst gerade gespielt haben; indem sie aufarbeiten, was – dem Gemeinsinne nach – für sie unbegreiflich bleiben muss.

So vergeht einige Spiel-Zeit, bis man der Darstellerin der Mutter dabei zusehen muss, wie sie ihre fünf Kinder abschlachtet – man kann es kaum anders ausdrücken. Nacheinander schlitzt sie fünf Kehlen auf, das Theaterblut quillt.

Milo Rau wählt die extremste Form der Gewaltdarstellung, aber er zitiert sie, hegt sie ein, entkräftet sie – hebt sie im mehrfachen Wortsinn wieder auf. Selbst ist der Theatermacher in ein Drachenkostüm geschlüpft. Es ist niemand Geringerer als Milo Rau, den Jason und Medea gemeinsam zur Strecke bringen, irgendwo am Strand von Ostende, diesem Kolchis voll mit Bettenburgen aus Beton.

Niemand bleibt an diesem Abend auf der Strecke. Man hat den Abgrund, der uns Nachgeborene von Medeas untröstlicher Verzweiflung trennt, nicht leicht überwinden können. Zu erfahren war und ist, wie grundverschiedene Kulturen nicht nur nebeneinander existieren, sondern ineinander verkeilt sind.

Die Vertreter der abendländischen Vernunft: Professoren, Ärzte, sitzen in beschaulichen Strandkörben. Die Migranten hausen in Enklaven, von sprachlosen Müttern in den trügerischen Schlaf der Überlieferung gewiegt. Sie alle sind nur durch wenige Meter voneinander getrennt. Sie alle finden im Theater von Milo Rau Gehör. Und kommen, so wie Medeas "echte" Kinder, tatsächlich zu Wort. Erst der Rest ist Schweigen. Ein unerhörtes Stück zur Zeit. (Ronald Pohl, 29.5.2024)