"Ihr Leben hat für mich vor allem eines bedeutet: die konsequente, furchtlose Suche nach der Wahrheit, egal wohin sie führen mag", schrieb der Politikwissenschafter Hans Morgenthau im Oktober 1971 in einem sehr persönlich gehaltenen Brief zum 90. Geburtstag an Hans Kelsen.

Sieht man von Karrierist:innen ab, ist es dieses Ethos, das auch das Leitmotiv für die zigtausenden Mitarbeiter:innen in Nachrichtendiensten ist. Überhaupt könnte man in Clausewitz'scher Art sagen, dass das Spionagewesen die Fortsetzung der Gefahrenerforschung mit anderen Mitteln ist.

Und klar: ohne geheime Mittel keine Musik. Menschen, SMS, Telefonate, Fotos, Satellitenbilder, E-Mails et cetera liefern außen- und sicherheitspolitischen Mehrwert, nicht irgendwelche Einschätzungen – die nämlich nach Gutdünken gemacht und interpretiert werden und damit gefährlich sind.

Legitimitätskrise der Nachrichtendienste

Dass man sich die Vorgesetzten nicht aussuchen kann, wissen alle. Manchmal läuft's besser, manchmal weniger. Aber dort, wo der Wille zur Macht auf das Streben nach Wahrheit trifft, ist es heikel. Das gilt besonders für die Beziehung zwischen Führungskräften der Politik und jenen von Nachrichtendiensten.

Nehmen wir beispielhaft die USA. Dass das Weiße Haus die Direktor:innen von FBI und CIA bestellt, sagt nichts über das Verhältnis zwischen konkreter Außen- und Sicherheitspolitik und die Rolle nachrichtendienstlicher Repression und Prävention aus. Bill Clinton konnte weder Louis Freeh (FBI) noch James Woolsey (CIA) leiden. George W. Bush wiederum hat nach 9/11 beide Behörden von der Leine gelassen. Barack Obama wusste immer alles besser. Donald Trumps tiefe Abneigung gegenüber FBI und CIA verheißt nichts Gutes für Trump II.

FBI und CIA sind in dem Maße politisch, als sie die gesetzliche Ordnung gegen ihre inneren und äußeren Feinde zu verteidigen haben.
AP/Alex Brandon

Aktuell lässt Joe Biden die 18 US-Dienste in Ruhe arbeiten; was Trumpist:innen wiederum als Indiz werten, dass die Direktor:innen dieser Behörden, wie so ziemlich alle anderen Eliten des sogenannten tiefen Staates (deep state), ihr parteipolitisches Unwesen treiben. Trump ist aber nur die eine Sache. Er macht immer wieder deutlich, dass er bei den Nachrichtendiensten aufräumen will. "Entweder zerstört der tiefe Staat Amerika, oder wir zerstören den tiefen Staat", polterte Trump am 25. März 2023 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Texas.

Erschwerend kommt nämlich hinzu, wovor David V. Gioe, Michael S. Goodman und Michael V. Hayden kürzlich in der Fachzeitschrift Foreign Policy gewarnt haben. Selten war der Bedarf an nachrichtendienstlicher Erkenntnis so hoch wie heute. Gleichzeitig sind die Attacken von links und rechts auf Dienste scharf wie nie und das Vertrauen in die Dienste im Keller. Satte 70 Prozent der Amerikaner:innen meinen, dass sich FBI und Co in die US-Wahlen einmischen. Das ist also nicht nur Trump'sche Kernklientel.

Spionagewesen und politische Kämpfe

Es lohnt ein Blick zurück – in die Theorie und Biografie von Kelsen. Anlässlich des 30. Jahrestages der Veröffentlichung der Reinen Rechtslehre hat es Morgenthau (der 1934 in Genf von Kelsen habilitiert wurde) im Jahre 1964 in einer Festschrift auf den Punkt gebracht.

Kelsen hat radikalrealistisch den antidemokratischen Dualismus von Staat und Recht beendet. Der Staat ist kein Ding oder Wesen oder Makroanthropos aus Fleisch und Blut. Staat ist Recht: personifiziert durch Träger:innen von gesetzgebenden, verwaltenden und rechtsprechenden Funktionen, die das Zusammenleben von Menschen regeln.

Die Identität von Staat und Recht (Rechtsstaat) impliziert dann auch die Identität von Rechts- und politischer Ordnung. Man kann methodisch sowohl rechts- als auch politikwissenschaftlich den Staat studieren. Aber erkenntnistheoretisch ist Rechtsstaat eben Rechtsstaat, ein politischer Zwangsapparat. Polizei und Militär sind also nicht wertneutral. Sie sind integraler Teil der gegenwärtigen Verfassung, nur aus dieser historischen Ordnung leiten sich Aufgaben und Befugnisse ab.

Dasselbe gilt für Nachrichtendienste, ob abwehrend oder aufklärend, zivil oder militärisch. FBI und CIA sind also in dem Maße politisch, als sie die positivierte Ordnung gegen ihre inneren und äußeren Feinde zu verteidigen haben. Überall dort, wo Staat gleich Recht ist und dynamisch-prozedural Gesetz erzeugt, angewendet und gesprochen wird, kann es keine Unparteilichkeit oder Wertneutralität geben. Das mag desillusionieren. Aber um eben genau nicht antidemokratisch zu sein, sind Gesetze alleiniger Handlungsrahmen, nicht irgendein ideologisches Blabla von Moral, Vernunft, Strategie oder nationalen Interessen – alles Fiktionen.

Hans Kelsen und Truman'sche politische Dynamiken

Aus heutiger Sicht mag der 33. US-Präsident für die Geschichtsforschung sowie Transatlantiker:innen (Marshallplan) noch relevant sein. Aber auch betreffend die institutionellen Dynamiken von Nachrichtendiensten ist der Blick zurück in die Nachkriegszeit wertvoll – und es traf auch Kelsen.

Für Truman – und Gleichgesinnte auf demokratischer und republikanischer Seite – war klar, dass die im Jahr 1908 eingerichtete Bundespolizei, die mit harten nachrichtendienstlichen Mitteln ausgestattet war, an die Leine muss. So notierte er im Mai 1945 handschriftlich: "Wir wollen keine Gestapo oder Geheimpolizei. Das FBI tendiert in diese Richtung." Unter der Leitung J. Edgar Hoovers gab es zu viele Skandale, die ein Sittenbild systemischer Illegalität, politischer Hexenjagd und gelebten Rassismus widerspiegelten.

Und es ging schnell, samt 180-Grad-Drehung. Im Jänner 1946 etablierte Truman die Central Intelligence Group (CIG). Diese sollte alle nachrichtendienstlichen US-Erkenntnisse sichten, analysieren und ans Weiße Haus übermitteln. Truman wollte "CIG-Zeitung" lesen. Eineinhalb Jahre später, im Juli 1947, unterzeichnete derselbe Truman allerdings den National Security Act of 1947.

Dem skandalträchtigen FBI wurden die Auslandsagenden entzogen. Aus der CIG wurde die CIA. Und vorbei war's mit sichten, analysieren und lesen, denn Truman ermächtigte die CIA zu verdeckten politischen und paramilitärischen Aktivitäten im Ausland. Anlass für diese Kehrtwende war die sich in den Jahren 1946 bis 1947 rasch und deutlich verschlechternde geopolitische Situation vis-à-vis Moskau.

In dieser hitzigen Gemengelage des beginnenden Kalten Krieges wurde es dann auch für Kelsen unangenehm. Derselbe Kelsen, der noch während des Zweiten Weltkrieges für eine Behörde des US-Nachrichtendienstverbundes gearbeitet hatte, wurde Anfang der 1950er vom FBI des Kommunismus verdächtigt – was völlig absurd war. Freilich wurden die Ermittlungen im Laufe der Zeit eingestellt.

Der – oft negierte, jedoch eigentlich triviale und von Kelsen immer wieder aufs Neue gemachte – Punkt ist, dass sich die politischen Dynamiken ganz schnell ändern können. Und nicht vergessen: Der McCarthyismus-Hooverismus hat sich nicht nur gegen Linke, Rote und Commies (red scare) gerichtet, sondern vielmehr auch gegen Homosexuelle (lavender scare), progressive Frauen (pink scare) und gegen die Bürgerrechtsbewegung (black scare). Also gegen ziemlich viele.

Der Zeit ihre Nachrichtendienste – Mit Verve und Vorsicht

All das soll keine billige Kritik am Spionagewesen und den Verfehlungen gewisser Leute sein. Im Gegenteil. Wir (die beiden Autoren, Anm.) sind der Auffassung, dass es angesichts der großen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen, vor denen die EU und die transatlantische Partnerschaft stehen (beziehungsweise bereits mittendrin sind), heutzutage und zukünftig so wichtig wie selten zuvor ist, dass westliche Nachrichtendienste so aufgestellt sind, dass sie demokratischen Regierungen effektiv helfen können, zu beurteilen, wer Feind ist – und wenn ja, warum. Und ob man es mag oder nicht: Hierfür braucht es das berühmt-berüchtigte "Stehlen von Geheimnissen".

Aber hier liegt die Krux. Die Politik muss entscheiden, mit welchen Aufgaben und Befugnissen die Nachrichtendienste ausgestattet sind. Es bringt auch nichts, so zu tun, als wären diese unpolitisch oder apolitisch. Das sind sie nicht; dürfen sie gar nicht sein. Es bringt aber auch nichts, "Vertrauensleute" zu installieren; denn das Spionagewesen ist moralisch, psychologisch, soziologisch sui generis – folgt eigenen Spielregeln. Das ist einfach so; anderes zu denken wäre naiv.

Was wir von Hans Kelsen – dem knallharten Rechtspositiven und so erfrischend liberalen Demokratietheoretiker – also lernen können, ist dreierlei:

(Robert Schütt, John C. Williams, 3.6.2024)