Bis zum Jahr 2030 soll die Emissionen um 55 Prozent sinken. Bis 2040 um 90 Prozent. Bis 2050 gar um hundert Prozent. Es ist eine steile Reduktionsvorgabe, die sich – jeweils im Vergleich zum Basisjahr 1990 – die EU verpasst hat. Unzählige Maßnahmen, gemeinhin unter dem Schlagwort "Green Deal" zusammengefasst, sollen zusammenwirken, damit dieses Vorhaben gelingt.

Ein wesentlicher Baustein trat im vergangenen Oktober in Kraft, zumindest in einer Vorform. Auch wenn er in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung nicht stark aufgeschlagen ist, ist es ein durchaus epochaler Schritt: Die EU bricht ein Stück weit mit ihrem alten Credo, dass freier Handel über alle Grenzen hinweg stets Gutes bewirkt und anzustreben ist. Sie führt einen Zoll für klimaschädliche Produkte ein. Offiziell heißt er "Climate Border Adjustment Mechanism" (CBAM).

Die EU zieht eine grüne Grenze ein
Fatih Aydogdu/DER STANDARD

Wenn ein 450-Millionen-Einwohner-Wirtschaftsraum wie die EU eine solche Maßnahme einführt, wirkt sich das in aller Welt aus, auch in Österreich. Aber wie genau?

Ausgleichsmechanismus

Wenn jedenfalls klimaschädliche Produkte in die EU kommen, müssen die Importeure für den Schaden bezahlen. In den ersten beiden Jahren, seit Ende 2023 bis Anfang 2026, läuft noch eine Art Test, in dem der Emissionsgehalt bei Einfuhren an der EU-Außengrenze lediglich erhoben wird, ohne dass tatsächlich etwas zu bezahlen wäre. Ab Jänner 2026 wird der Zoll dann real fällig. Betroffen sind vorerst besonders klimaschädliche Waren, etwa Stahl, Aluminium, Zement, Düngemittel und chemische Produkte. Allein in Österreich sind bei den Unternehmen, die derartige Produkte verarbeiten – und demnach für den Klimazoll aufkommen müssen –, laut Wirtschaftskammer rund 195.000 Personen beschäftigt.

"Die Idee dahinter ist, Fairness zu schaffen", sagt Claudia Kettner-Marx, Ökonomin mit Schwerpunkt Klimaschutz am Wiener Wifo. Denn die Industrie innerhalb Europas unterliegt dem Emissionshandelssystem (ETS): Sie muss für jede Tonne klimaschädliches CO2, die sie ausstößt, ein Zertifikat erwerben. Derzeit kostet jede emittierte Tonne etwas mehr als 70 Euro. In anderen Weltteilen hingegen gibt es solche Bepreisungssysteme meist nicht. Die EU-Unternehmen haben dadurch einen Nachteil auf dem Weltmarkt. Mithilfe des CBAM soll er ausgeglichen werden. Die Höhe des Zolls entspricht jener des ETS: Es handelt sich also um keinen feststehenden Betrag, sondern um einen wöchentlich schwankenden, je nach ETS-Kurs. Und: Sollte ein anderer Weltteil eine CO2-Bepreisung einführen, die dem europäischen ETS gleichkommt, dann wird der CBAM beim Export nach Europa entfallen.

Rechnung für arme Länder

Die Folge liegt auf der Hand: Die Rechnung für all das werden wohl andere Wirtschaftsräume zahlen, die keine eigene CO2-Bepreisung einführen können oder wollen. Darunter finden sich ausgerechnet einige der ärmsten Länder der Welt. Eine aktuelle Erhebung der London School of Economics mit Blick auf Afrika prognostiziert etwa, dass die Exporte von Aluminium aus Afrika in die EU infolge des CBAM um 13,9 Prozent sinken werden, jene von Stahl um 8,2 Prozent und jene von Düngemitteln um 3,9 Prozent.

"Ja, es braucht es einen Schutz für die EU-Industrie – und CBAM ist ein erster Ansatz dazu", sagt Wolfgang Brenner, der in der Bundessparte Industrie der Wirtschaftskammer für Energie- und Klimapolitik zuständig ist. "Aber das ist nur eine Seite der Medaille." Denn: Auch Europas Industrien sind mit dem CBAM keineswegs uneingeschränkt glücklich. Wenn beispielsweise ein österreichischer Maschinenbauer den Stahl für seine Erzeugnisse aus Indonesien bezieht, muss auch er künftig bei der Einfuhr den CBAM entrichten. Die Produkte des Maschinenbauers werden dadurch teurer und weniger konkurrenzfähig. Das Kernproblem laut Industrie: Der CBAM verteuert solcherart die Produktion in der EU, ohne aber eine Entlastung vorzusehen, wenn anschließend die EU-Produkte in Regionen mit weniger Klimaschutz exportiert werden. "Ohne diese Problematik wäre der CBAM zwar ein richtiger Ansatz für die klimafreundliche Transformation der Wirtschaft, aber dieser Aspekt stellt ein großes Problem dar", sagt Brenner.

"Unfassbares Berichtswesen"

"Es wäre natürlich das Beste, wenn sich die ganze Welt zu einer CO2-Bepreisung entschließen würde", antwortet Wifo-Ökonomin Kettner-Marx auf dieses Dilemma. Aber – darauf deutet nichts hin. Deshalb versucht die EU, als Pionierin vorzupreschen. Die Hoffnung ist, dass infolge des CBAM der EU bald in aller Welt CO2-Bepreisungssysteme sprießen. Aber wird das auch geschehen? Eher nicht – mächtige Akteure wie Indien etwa, ein besonders aufstrebendes Land, haben jedenfalls bereits abgewunken. Die Inder hätten bisher im Vergleich zu den Europäern kaum zum globalen Klimaschaden beigetragen, erklärte Industrieminister Piyush Goyal im Februar: Man werde keinesfalls mit einem CO2-Preis Indiens starkes Wirtschaftswachstum gefährden.

Neben all dem gibt es eine andere wichtige Frage. Wie soll man überhaupt berechnen, wie viel klimaschädliches CO2 für die Produktion einer bestimmten Ware, die die EU-Grenze passiert, ausgestoßen wurde? Immerhin stecken hinter jeder Ware komplexe Lieferketten mit unzähligen Beteiligten. Vorgesehen ist, dass die EU-Importeure Daten von Herstellern in fernen Ländern einsammeln und Gutachter beauftragen sollen, die den CO2-Ausstoß der jeweiligen Einfuhr ermitteln. Ob dieser Plan brauchbare und zuverlässige Ergebnisse liefert, muss sich erst weisen. Jedenfalls führt er zu einem "unfassbaren Berichtswesen", klagt Wirtschaftskammer-Experte Brenner, das vor allem kleine und mittlere Unternehmen hart treffen würde. "Wir appellieren eindringlich, dass die EU-Kommission Standardwerte akzeptiert, falls die Importeure keine genaueren Daten liefern können oder wollen." Bei der besagten Tonne Stahl aus Indonesien beispielsweise könnte die EU-Kommission einen CO2-Preis schlicht pauschal festlegen – statt dass das betroffene Unternehmen den echten Treibhausgasausstoß seiner konkreten Einfuhr ermitteln muss. Zwar sind Standardwerte in der Testphase derzeit noch zulässig, bald aber sollen sie es weitgehend nicht mehr sein.

Eines ist klar: Der CBAM zeigt, dass die EU den globalen Kampf gegen den Klimawandel ernst nimmt und entschlossen angeht. Doch die Auswirkungen – auf arme Länder ebenso wie auf jene in Europa – sind völlig offen. In den kommenden Jahren jedenfalls wird vom CBAM garantiert noch viel zu hören sein. (Joseph Gepp, 21.5.2024)