Süßgräser, Lippenblütler, Rosengewächse, Steinbrechartige, Ericaceen ... – mit mehr als 3000 Blütenpflanzen ist die "Systematische Gruppe" eine der wichtigsten im Botanischen Garten. Nur dank gärtnerischen und botanischen Ehrgeizes können wir derart viele Arten aus den unterschiedlichsten Verwandtschaftskreisen und Lebensräumen an einem Ort zeigen – und trotzdem beherbergt die Gruppe nur einen Bruchteil der circa 300.000 "Bedecktsamer" (Angiospermen). So werden die Pflanzen genannt, die eine Blüte ausbilden und deren Samenanlagen von einem Fruchtblatt umschlossen sind. Diese evolutionären Neuerungen haben bereits vor 100 Millionen Jahren zu einer Explosion der Arten- und Formenvielfalt geführt, nicht nur bei den Blütenpflanzen selbst, sondern auch bei den sie bestäubenden Tieren.

Nelkengewächse und andere Blütenpflanzen wachsen in der Systematischen Gruppe des Botanischen Gartens.
Nelkengewächse und andere Blütenpflanzen wachsen in der Systematischen Gruppe des Botanischen Gartens.
Rudolf Hromniak

Das Aussehen der Ur-Blüte

Wie genau die Evolution der Blüten abgelaufen ist, erforschen Jürg Schönenberger, Marion Chartier, Maria von Balthasar und weitere Kolleg:innen vom benachbarten Department für Botanik- und Biodiversitätsforschung gemeinsam mit Partner:innen aus aller Welt. Unter anderem rekonstruierten sie das Aussehen der Urmutter aller Angiospermen-Blüten. Dafür wurden in einem internationalen Projekt namens eFLOWER die Blütenmerkmale vieler Hundert Blütenpflanzen analysiert, mithilfe derer dann Rückschlüsse auf deren Urahn gezogen werden konnten. Lange dachte man, dass die Urblüten eingeschlechtlich und ihre Blütenteile spiralförmig angeordnet waren. Die Ergebnisse der Wiener Botaniker:innen deuten aber darauf hin, dass es Zwitterblüten mit Staub- und Fruchtblättern waren, die von einer mehrteiligen Blütenhülle eingefasst wurden.

Blüte des Vorfahren aller Bedecktsamer
So sah möglicherweise die Blüte des Vorfahren aller Bedecktsamer aus.
Hervé Sauquet & Jürg Schönenberger

Die Entstehung verschiedener Blüten-Typen

In einem nächsten Schritt haben die Botaniker:innen vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung mit ihren Kolleg:innen die morphologische Vielfalt fossiler Blüten analysiert und – aufbauend auf den eFLOWER-Daten – mit der Vielfalt lebender Arten verglichen. Das erstaunliche Ergebnis: Die Blütenpflanzen hatten bereits kurz nach ihrer Entstehung in der Kreidezeit eine große Anzahl verschiedener Blütentypen hervorgebracht. Diese früheste Blütenvielfalt war größer als die heutige, obwohl es vor 100 Millionen Jahren noch viel weniger Arten gab als heute.

In schwarz-weiß sind drei fossile Blüten aus der frühen Kreidezeit dargestellt, in Farbe vier Blüten von heute lebenden Blütenpflanzen.
In Schwarz-Weiß sind drei fossile Blüten aus der frühen Kreidezeit dargestellt, in Farbe vier Blüten von heute lebenden Blütenpflanzen.
Julia Asenbaum

Ein ähnliches Evolutionsmuster ist auch von verschiedenen Tiergruppen bekannt. Unter anderem wiesen auch die Dinosaurier eine große Formenvielfalt auf – zu einem Zeitpunkt, als die Zahl der Arten noch relativ gering war.

Bei den Blütenpflanzen ist eine mögliche Erklärung für dieses Muster, dass die Organisation der Blüten zu Beginn der Entwicklung der Angiospermen flexibler gewesen sein könnte als heute. Dank der Flexibilität hätten sich neue Blütentypen leichter entwickeln können. Sie hat es den Blütenpflanzen vielleicht auch ermöglicht, sich innerhalb weniger Millionen Jahre nach ihrer Entstehung an die verschiedenen Tiere anzupassen, die ihre Blüten bestäubten und ihre Früchte verbreiteten.

Die Evolution weiß es am besten

Die Ergebnisse der Forscher:innen zeigen deutlich, dass die Formenvielfalt innerhalb einer Verwandtschaftsgruppe nicht unbedingt mit dem Artenreichtum zusammenhängen muss. Tatsächlich ist es einigen extrem artenreichen Verwandtschaftsgruppen wie den Orchideen oder den Korbblütlern gelungen, tausende von Arten hervorzubringen und dabei die gleiche Blütenorganisation beizubehalten.

Sonnenblume
Der Blütenstände der Korbblütler (im Bild eine Sonnenblume) sind ein Erfolgsmodell der Evolution.
Rudolf Hromniak

Die frühe Vielfalt an Blütenformen ist nicht die einzige faszinierende Erkenntnis aus der aktuellen Forschung. Die Kolleg:innen am Department für Botanik zeigten auch, dass bestimmte Kombinationen von Blütenmerkmalen theoretisch möglich waren, aber offenbar nie von der Evolution hervorgebracht wurden. Gleichzeitig sind einige besonders erfolgreiche Blütentypen mehrmals unabhängig voneinander in nicht näher verwandten Pflanzenfamilien entstanden.

85 Millionen Jahre alte Blüte
Diese 85 Millionen Jahre alte Blüte wurde vor kurzem in Südböhmen entdeckt.
Xieting Wu & Jürg Schönenberger

Fossil und modern

Das Studium von Fossilien war für das verbesserte Verständnis der Blütenevolution entscheidend. Die Ergebnisse der Wiener Forscher:innen zeigen, wie wichtig es ist, den modernen Blüten fossile Funde gegenüberzustellen. Wem beim Spazieren durch Systematische Gruppe im Botanischen Garten angesichts der erstaunlichen Vielfalt von Blütenpflanzen der Kopf schwirrt, der muss sich in Erinnerung rufen, dass der Schlüssel für das Verständnis in der Vergangenheit liegt und mehr als 140 Millionen Jahre bis in die Zeit der Dinosaurier zurückreicht. (David Bröderbauer, 16.5.2024)