Um zum Mailänder Studio von Formafantasma zu gelangen, geht es erst einmal vorbei an Supermärkten, Tankstellen, Verwaltungsgebäuden. Das Büro befindet sich im Norden der Stadt, ein gutes Stück hinter der Stazione Centrale und der Piazzale Loreto. Angekommen in der Via Privata Assab steht man vor einem ockergelb, tomatenrot und kobaltblau gestrichenen Industriegebäude. Im Innenhof: viel Grün, ein Mitarbeiter des Teams führt in das offene Studio.
Wenig später erscheint Andrea Trimarchi. Das Gespräch findet an einem großen Holztisch statt, nebenan ein helles Sofa mit einem rosa Korb für Windhund Terra (nicht anwesend), einige Topfpflanzen, ein Bücherregal. Während der Mailänder Modewoche einen Termin mit dem Designduo Formafantasma zu finden war nicht ganz einfach. Der eine, Simone Farresin, ist gerade im Ausland, der andere, Andrea Trimarchi, ist in Mailand unterwegs – Prada-Show, Meetings, Abendveranstaltungen. Nebenbei jongliert das elfköpfige Team 40 Projekte.
Die beiden Italiener Andrea Trimarchi und Simone Farresin sind in Zeiten großer Umbrüche und Krisen gefragt. Das mag mit der Vielseitigkeit des Studios zu tun haben, aber auch mit dessen ganzheitlicher Denk- und Arbeitsweise. Formafantasma gestalten nämlich nicht nur Objekte. "Es gibt Interessanteres, als das Leben mit Dingen schöner zu machen", sagt Trimarchi. Nur selten entwerfe das Studio eine Lampe wie jene für den Leuchtenhersteller Flos, erklärt der gebürtige Sizilianer und deutet auf das Modell mit dem hängenden Kabel über seinem Kopf. Das Duo forscht, kuratiert Ausstellungen, entwickelt und realisiert Diskursformate, berät Unternehmen. "Wir wollen die Welt mit unseren Ideen füllen, nicht mit Produkten", erklärt Trimarchi nach einem Schluck Wasser. Nachsatz: "Wenn Design nur noch bedeutet, Stylings für Pinterest zusammenzustellen, ist das nicht okay. Das ist wahrlich nicht der Zeitpunkt dafür."
Die Haltung des Duos, das privat ein Paar ist, kommt nicht von ungefähr. In den Nullerjahren, in Italien die Ära der großen, kommerziellen Designunternehmen, zog es Andrea Trimarchi und Simone Farresin nach dem Studium in Florenz nach Eindhoven. 2009 eröffneten die beiden ihr Studio in Rotterdam. 2021, als während der Pandemie alles stillstand, nutzten Trimarchi und Farresin die Gelegenheit, nach Italien zurückzukehren. Zurück zu Freunden und Familien, zurück in eine Metropole, die sich seit ihrem Weggang verändert hatte.
Zwischen den Disziplinen
Geprägt habe sie einerseits die datenbasierte Arbeitsweise der niederländischen Szene, andererseits die radikale Designbewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre in Italien, die Arbeiten von Alessandro Mendini, Ettore Scottsass, Andrea Branzi, erklärt Andrea Trimarchi.
Wer die Arbeit von Formafantasma am nachhaltigsten beeinflusst hat? Der Designer muss nicht lange nachdenken. Enzo Mari – der 2020 verstorbene Gigant des italienischen Designs taucht in jedem Artikel über das italienische Designduo auf. "Aber auch Hella Jongerius", ergänzt Trimarchi, "beide kompromisslose Denker." "Mari war so radikal, dass er zuletzt nicht einmal mit Unternehmen zusammenarbeiten konnte", sagt Trimarchi, es schwingt Bewunderung mit, während er das sagt. So streng wie der überzeugte Marxist und um Nachhaltigkeit wie soziale Fragen bemühte Mari arbeiten Formafantasma nicht: "Wir sind ein kommerzielles Studio, nicht Teil des wissenschaftlichen Kosmos, wir müssen unsere Leute bezahlen."
Man könnte Trimarchi und Farresin eher als Grenzgänger zwischen den Disziplinen bezeichnen. Welches Segment ihnen den meisten Freiraum bietet? Trimarchi mag sich nicht festlegen, denn "Kunst, Design, Mode, sie alle werden von ökonomischen Interessen diktiert."
Materialrecherche
Beispielhaft für die Arbeitsweise von Formafantasma: die Schau Ore Streams aus dem Jahr 2017. Die Italiener appellierten mit pastellfarbenen Büromöbeln aus alten Elektrogeräten für einen verantwortungsvollen Umgang mit Elektroschrott. Dass die Objekte in der Ausstellung trotz dieser Botschaft formschön im Raum herumstanden, gehört zu den Erfolgsrezepten von Formafantasma. 2020 dann die vielbeachtete Ausstellung Cambio in der Londoner Serpentine Gallery. Die Schau, die sich wiederum um Materialexperimente drehte, war gemeinsam mit Starkurator Hans Ullrich Obrist und Rebecca Lewin entwickelt worden. Sie thematisierte das Verhältnis zwischen Mensch und Wald, der Forstwirtschaft und Holzindustrie. Wie wird Holz verwertet, vermarktet, genutzt? Die Schau durfte auch als Appell an die ökologische Verantwortung der Designwelt verstanden werden.
Ihre kritischen, Fragen aufwerfenden Konzepte übersetzen Formafantasma in unangestrengte, leichte Entwürfe. Dafür werden die beiden Designer disziplinübergreifend geschätzt. Man könnte auch sagen: Sie sind das europäische Designstudio der Stunde. Der Erfolg der beiden kam allerdings nicht von heute auf morgen. Bereits im Frühjahr 2011 listete sie Paola Antonelli, Designkuratorin am Museum of Modern Art in New York, als Gestalter, die "die Zukunft des Designs prägen werden". Sie hat recht behalten. Heute reißen sich die Unternehmen um sie. Der venezianische Textilspezialist Rubelli beispielsweise hat Andrea Trimarchi und Simone Farresin als Kreativdirektoren engagiert. Die erste Aufgabe der beiden war die Neuaufstellung der hauseigenen Marke Kieffer. Vom Katalog bis zur Kampagne, von den Kollektionen bis zur Neugestaltung der Stores in Paris und Mailand liegt alles in ihren Händen.
Dann wäre da noch die Zusammenarbeit mit einigen Luxusmodeunternehmen. An deren Arbeitsweise schätzt das Duo das Tempo – die Prozesse in großen Designunternehmen nehmen im Gegensatz dazu oft mehrere Jahre in Anspruch. Sehr bewusst arbeite man mit familiengeführten Modeunternehmen wie Prada oder Fendi oder im Fall von Jil Sander mit dem Ehepaar Meier zusammen, dessen Denkweise jener von Formafantasma ähnelt.
Nähe zur Mode
Man sei so sehr nah dran an den Entscheidungsträgern, erklärt Trimarchi. Beim Modeunternehmen Prada sei man direkt mit Miuccia Prada, nicht mit dem Marketingteam in Kontakt. Diese Nähe sei, räumt der Designer ein, bei den Marken internationaler Luxuskonzerne nicht möglich. Vielleicht hat das Studio auch vom Umzug nach Mailand profitiert. "In 20 Minuten sind wir mit dem Taxi in jedem Headquarter unserer Partner", sagt Andrea Trimarchi und grinst. So veranstaltet Prada seit 2022 alljährlich während der Designweek unter dem Titel "Prada Frames" ein mehrtägiges Designsymposium. Kuratiert wird die Veranstaltung, die den "multidisziplinären Wissenstransfer" vorantreiben will, von Formafantasma. Dem Studio kommt zugute, dass auch die Modeindustrie auf Sinnsuche ist. Da kommen die beiden Designer mit ihrer engagierten, aber versöhnlichen Haltung gerade recht.
Andrea Trimarchi und Simone Farresin haben auch privat eine Schwäche für Mode. "Wir haben einige tolle Stücke im Kasten, kennen Sie die Prada-Kollektion mit den Blumenmotiven?", zum Ende des Gesprächs kommt der Designer ins Plaudern – wenn nicht gleich der nächste Termin anstünde.(RONDO, Anne Feldkamp, 16.5.2024)