"Ich hab beschlossen, mir nicht mehr alles gefallen lassen zu wollen. Irgendwann hab ich mir gedacht, es ist g’scheiter, ich leb mein Leben allein", findet die Spätgeschiedene Manuela (63).
Heribert Corn

"Einsertisch", ruft Linda dem Herrn hinterher, dem sie eben ein oranges Band um das Handgelenk gebunden hat und der sich jetzt zu dem ihm zugewiesenen Platz aufmacht: "Wie immer!"

Sie streicht "Daniele" auf der ausgedruckten Namensliste durch und setzt ein Hakerl daneben. "Für die Männer", sagt sie dann, "muss ich immer extra Werbung machen über Facebook und Whatsapp." Damit das Verhältnis stimme, erklärt Linda. In der Regel nämlich kämen mehr Frauen als Männer.

Treffpunkt Panoramaschenke

Linda Weger-Rollwagen, die mit allen sofort per Du ist, egal ob sie sie kennt oder nicht, veranstaltet Singletreffen. Bekannt ist sie für ihre Tanztreffen wie an diesem späten Sonntagnachmittag im Mai in der Panoramaschenke in Wien-Favoriten. Ihre Klientel beginnt ab 50 Jahren, ein paar sind jünger und manche über 80. Das Programm verspricht: "Tanz und Spaß mit Linda", und das "in seriöser und familiärer Atmosphäre".

Um kurz vor 17 Uhr ist die Party noch nicht offiziell gestartet und trotzdem schon voll im Gange. Aus den Lautsprechern tönt die Stimme Adriano Celentanos, der über die Liebe singt, über Vertrauen und die Schwierigkeit, über Gefühle zu sprechen. An den gedeckten Tischen sitzen die ersten Gäste, nippen an ihrem Cola oder weißen Spritzer, führen Unterhaltungen über Tische hinweg oder blicken stillschweigend in den Raum.

Gut zwei Dutzend aber sind schon auf der Tanzfläche. Dort werden routiniert Beine gekreuzt, Schritte flott nach vorn und hinten gesetzt, Körper zum Drehen gebracht. DJ Willi steht hinter einem Tisch und spielt Boogie-Nummern, Oldies und Latino-Hits von seinem Laptop. Willi ist nicht nur DJ, sondern seit zehn Jahren auch Lindas Ehemann.

Mit ihrem früheren DJ war sie unzufrieden, erzählt Linda: "Er hat ständig nur Boogie gespielt, und das viel zu laut. So kann man sich ja nicht unterhalten, geschweige denn jemanden kennenlernen!" Dann kam Willi in Lindas Leben. Der 77-Jährige hatte immer wieder auf Partys für die Musik gesorgt, erzählte er ihr. Also übernahm er – und steht seither immer in schwarzem T-Shirt, auf dem in Comic-Sans-Schrift "DJ Willi" und "Lindas Treff" steht, am Mischpult.

Paar
Im Juli feiern Linda und Willi, Lindas Mann und DJ, 26 Jahre "Lindas Tanztreff".
Heribert Corn

Favoritner Institution

Die Panoramaschenke ist eine Institution im Bezirk, es ist so etwas wie das Schweizerhaus des Zehnten. Und gewissermaßen ist auch die heutige Veranstaltung eine Institution: "Lindas legendäre Treffs", wie Linda ihre Tanzabende nennt, gibt es seit über 25 Jahren. Jeden zweiten Sonntag finden sie hier statt und dazwischen, ein- bis zweimal im Monat, im Chattanooga, einem Traditionslokal in der Wiener Innenstadt.

Linda ist 74 Jahre alt und pensionierte Volksschullehrerin. Das passt gut, die Wienerin ist nämlich der Typ Mensch, den man sich als Volksschullehrerin gut vorstellen kann: herzlich, geduldig, freundlich, witzig, gleichzeitig aber auch bestimmt. "Hallo, servus!", begrüßt sie jeden Einkehrenden: "Grüß dich!" "Viel Spaß!" und "Schön, dass ihr da seid!", ruft sie ihnen hinterher.

800 Paare in 25 Jahren

800 Paare hat sie laut ihrer Zählung im letzten Vierteljahrhundert schon zusammengebracht. Jeder Abend steht unter einem anderen Motto: "Karibische Nacht" etwa, "Holiday Feeling", "Lady in Red". Heute lautet es: "Silber und Gold". Die meisten Männer tragen Hemd und haben die Haare sorgfältig gekämmt. Die Frauen haben Schmuck angelegt, Lidstrich und Lippenstift aufgetragen. Sie tragen Paillettenhosen, T-Shirts in Metallic-Optik und Röcke mit Glitzersteinen. Linda selbst hat silberlackierte Nägel und goldene Sneaker an.

Es ist 17.30 Uhr, Zeit für die Begrüßung. Die Schuhe, sagt Linda schmunzelnd, seien das Einzige gewesen, das sie thematisch passend anziehen konnte. "Alles andere ist über Nacht plötzlich geschrumpft." Gelächter. In ihren kurzen Durchsagen wird Linda noch mehrere Male die Atmosphäre auflockern. Bevor sie ihr Mikrofon zurücklegt, sagt sie noch: "Vielleicht feiern wir ja Scheidungen, die können schließlich auch ein Fest der Freude sein!"

Dann setzt sich Linda wieder an ihren Tisch neben dem Eingang, fragt Namen ab, weist Tischnummern zu, nimmt Eintrittsspenden entgegen und legt sie in eine herzförmige, rote Metallbox neben sich. In ihr Handy trägt sie im Laufe des Abends die Anmeldungen für die nächsten Termine ein: "Lila-Pink am 26. Mai war das, gell? Vier Damen, okay."

Einladung
Jeden zweiten Sonntag finden Lindas Tanzabende in der Panoramaschenke statt.
Heribert Corn

"Graue Scheidungen"

Heute sind es an die 70 Leute, die bis in die Abendstunden tanzen, quatschen und neue Bekanntschaften machen. Was wenig sei, sagt Linda, normalerweise seien es eher 120, 130. Aber draußen strahlt die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Viele seien unterwegs, manche krank. Und: Heute seien ungewöhnlich viele Männer da.

Events wie diese passen zu einer gesellschaftlichen Entwicklung. In Österreich sinkt zwar die Scheidungsrate, aber das trifft nicht auf alle Altersgruppen zu. Bei Paaren zum Beispiel, die seit mehr als 25 Jahren verheiratet sind, nehmen die Zahlen zu. Bei jenen, die über 50 Jahre alt sind, steigen sie besonders deutlich. Und immer öfter geht die Scheidung auf die Frau zurück.

"Grey Divorce" nennt sich dieser Trend, der auch in anderen westlichen Ländern zunimmt, "graue Scheidung". In einer aktuellen Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung der Universität Wien wurden Ursachen und Motive für die Trennung in dieser demografischen Gruppe untersucht. Demnach hat sich ihre Zahl im Zeitraum von 1985 bis 2019 fast vervierfacht. Und die Zahlen würden weiter steigen. Bei jüngeren Ehepaaren hingegen steigt die Scheidungsquote zwar bis 2007, danach war sie aber sogar rückläufig.

Gesellschaftlicher Umbruch

Die Zunahme von Spätgeschiedenen liegt nicht nur daran, dass die Lebenserwartung steigt und der Anteil an älteren Menschen zunimmt, sondern sie hat auch gesellschaftliche Gründe: mehr finanzielle Unabhängigkeit von Frauen allen voran, aber auch die Entstigmatisierung von Scheidungen. Sind die Kinder aus dem Haus, trennt es sich leichter.

In der Panoramaschenke sind viele "Solodamen", wie Linda sie nennt, geschieden, davon einige schon länger, andere hingegen recht frisch. Charlotte (85) etwa lebt schon seit 1978 getrennt und ist "sehr froh darüber": weil ihr Ex-Mann zu viel Alkohol trank und seine Familie sie schlecht behandelte.

Tanzpaar
Michaela und Günther lernten sich im Tanztreff kennen.
Heribert Corn

Vielfältige Gäste

Michaela (63) erzählt, dass sie mit 50 Jahren beschloss, sich "nicht mehr alles gefallen lassen" zu wollen. Ihr Ex-Mann habe ihr gegenüber jede Wertschätzung verloren. Die beiden Kinder waren ausgezogen, und "irgendwann hab ich mir gedacht, es ist g’scheiter, ich leb mein Leben allein". So war zumindest der Plan. Ein Jahrzehnt später besuchte Michaela Lindas Singletreff und lernte dort, bei ihrem ersten Mal, Günther kennen. Er ist einer von Lindas sogenannten Taxitänzern – angeheuerten Profis, die die Solodamen zum Tanzen auffordern. Inzwischen sind Günther und Michaela verlobt, im Juli heiraten sie.

Aber nicht alle Frauen hier sind geschieden. Christa beispielsweise, die 80 ist und "glücklich verwitwet", wie sie über sich selbst sagt. Christa liebt Reisen, die Zeit mit ihren Enkeln, Musik und das Schreiben. Es dauert keine Minute, bis sie das erste Gedicht vorträgt, das vom Tanzen handelt und irgendwie auch von Beziehungen. Einen Mann sucht sie hier aber nicht: "Nein", schüttelt sie den Kopf. Und dann gibt es noch Paare, die nur zum Tanzen kommen und wegen der guten Musik "vom Willi". Wie Manuela (58) und Josef (67), die sagen, die meisten Tanzevents seien ja sonst fast immer nur für Jüngere.

Singlebörsen und reale Treffen

Es ist nicht so, dass Linda jemals bewusst eine Altersgrenze definiert hätte. Sie hat sich vielmehr einfach so ergeben. Linda hat ihre Singletreffen nämlich aus Eigeninteresse heraus gestartet: Mit 41 Jahren ließ sie sich scheiden, die drei Töchter waren da zwischen fünf und 15 Jahre alt. Es folgten ein paar losere Bekanntschaften, eine längere Beziehung, im Grunde aber "war ich eigentlich ein glücklicher Single, ich hab das genossen".

Linda gab Kontaktanzeigen auf, irgendwann aber dachte sie sich: "Praktischer wäre es, wenn man gleich mehrere Singles beisammen auf einem Haufen hätte." So kam ihr die Idee mit dem Tanzabend. Das war im Sommer 1999. Sie schaltete Werbung in Zeitungen, versprach darin je ein Glas Sekt zur Begrüßung – aus Sorge, dass niemand auftauchen würde. Am Ende reichte der Sekt nicht aus, es kamen mehr als 450 Leute, vor der Tür standen sie meterlang Schlange. Ihre Tanzabende hätten sich "wie ein Lauffeuer verbreitet".

Lokale kamen plötzlich auf sie zu, Stammtische und Reisen für Singles waren die nächsten Schritte. "Weil es damals nichts dergleichen gab, wie ich später erfahren hab", sagt Linda. Das ist eigentlich bis heute so. Datingportale und Seiten zum Verabreden für Singles in der sogenannten zweiten Lebenshälfte gibt es im Internet zuhauf. Veranstaltungen aber, wo das Kennenlernen im echten Leben passiert, findet man dort nicht so schnell. Auch wenn man am Ende eines Abends vielleicht keinen Partner gefunden, aber zumindest eine schöne Zeit verbracht hat. (Anna Giulia Fink, 11.5.2024)