Nach wochenlangem Beschuss aus der Luft rückt Russland nun auch auf dem Boden in Richtung der ukrainischen Millionenstadt Charkiw vor. Wie Kiew am Freitag mitteilte, haben russische Truppen an zwei Orten an der Nordostgrenze des Landes die Trennlinie überschritten und sind in ukrainisches Territorium vorgedrungen. Sie seien rund einen Kilometer weit in Richtung des Ortes Wowtschansk vorgedrungen, heißt es in der Mitteilung. Dieser werde seither mit Artillerie und mit Gleitbomben auch aus der Luft angegriffen. Die Ukraine sei auf einen solchen Angriff vorbereitet gewesen und habe Verstärkungstruppen eingesetzt. Die Kämpfe würden weitergeführt und in "unterschiedlicher Intensität" andauern. Den ersten Angriff aber habe man abgewehrt.

Einen Angriff auf die Region hatten die Ukraine und ihre Unterstützer schon seit geraumer Zeit befürchtet. Sie gilt wegen der langen Grenze zu Russland als besonders verwundbar. Während der ersten Phase des russischen Vollinvasionsversuchs hatte Russland auch große Teile der Oblast Charkiw erobert, die die Großstadt umgibt. Im Sommer desselben Jahres hatte die Ukraine das Gebiet wieder befreit. Der Stadt ist seither aber immer wieder Ziel heftiger Angriffe geworden.

Eroberung unwahrscheinlich

Dass Moskau die Mittel hat, um die Stadt nun zu erobern, stellen viele Analystinnen und Analysten in Zweifel. Dafür wären nach Ansicht der Militärexpertin Dara Massicot von Carnegie Endowment for International Peace in Washington etwa 75.000 bis 100.000 Mann nötig, wie sie in einem X-Thread schreibt. Diese habe Russland aktuell wohl kaum zur Verfügung. Aktuelle Höchstschätzungen gehen von rund 50.000 Soldaten aus, die sich an der Grenze zuletzt gesammelt hätten. Sie stammen vermutlich aus der Reserve.

Sehr wohl denkbar scheint mit dieser Stärke allerdings, dass Moskau ohnehin ein anderes Ziel verfolgen könnte. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte nach seiner Wiederwahl im März mehrfach von der Schaffung einer Pufferzone an der Grenze zwischen den beiden Staaten gesprochen. Als Grund gibt Moskau wiederkehrende Drohnenangriffe der Ukraine in der russischen Grenzstadt Belgorod, etwa auf Mineralöldepots, an. Die ukrainischen Streitkräfte teilten am Freitag auch mit, sie würden davon ausgehen, dass Russland bis zu zehn Kilometer tief in die Ukraine eindringen wolle.

Druck auf Kiew

Für Russland hätte das abseits des vom Kreml vorgegebenen Grundes noch weitere Vorteile. Von der sogenannten Pufferzone aus könnte Russland seine Angriffe auf Charkiw aus der näheren Umgebung fortsetzen und womöglich die Evakuierung von Teilen der Stadt erzwingen. Außerdem zwingt es die Ukraine, weitere Einheiten von den bisherigen Kämpfen in der Region Donezk, wo Russland zuletzt ebenfalls Fortschritte machte, abzuziehen. Dies könnte in der aktuellen Phase, in der die Ukraine noch auf die angekündigten neuen Waffen aus den USA wartet und Probleme bei der Mobilisierung weiterer Soldaten hat, aus Sicht Russlands auch dort Vorteile bringen.

Russlands Angriffe auf die Stadt Charkiw trafen am Freitag auch Privathäuser in einer Vorstadtsiedlung.
EPA/SERGEY KOZLOV

Kiew versucht derweil auf anderen Wegen, Druck auf Russland aufrechtzuerhalten. Am Freitag wurden neue Brände in russischen Öllagerstätten gemeldet. So soll eine Raffinerie in der Region Kaluga nach Drohnenbeschuss in Brand geraten sein. Laut dem Gouverneur der mehr als 100 Kilometer von der Ukraine entfernten Oblast seien die Brände schnell gelöscht worden. (Manuel Escher, 10.5.2024)