Ungarn in Trance: Ein dynamischer Mann in den besten Jahren, locker, leger, in schneeweißen Sneakern und maßgeschneiderten Slim-Fit-Hemden, tourt wie ein Popstar durch die ungarische Provinz. Leichtfüßig schwingt er sich auf die Ladeplattform eines Kleinlasters, spricht über den katastrophalen Zustand des Landes, teilt in alle politischen Richtungen aus und lockt dabei Menschen, die sich sonst kaum um Politik scheren, aus den hintersten Winkeln hervor: Der Name Péter Magyar ist in aller Munde, seine Auftritte sind ein Medienereignis.

Péter Magyar Ungarn Politik EU
Sorgt für ein Beben in der ungarischen Innenpolitik: Péter Magyar.
Foto: Reuters / Marton Monus

Dabei war der ehemalige Leiter der staatlichen Agentur für Studentenkredite noch vor wenigen Monaten bestenfalls als Ehemann der Justizministerin Judit Varga bekannt und galt als Handlanger des Fidesz-Regimes. Im Zuge der Kindesmissbrauchsaffäre samt Rücktritt seiner nunmehr ehemaligen Ehefrau begann er, Interna über Korruption und Nepotismus auszupacken, aber wenig, was nicht schon bekannt gewesen wäre. Dennoch konnte er eine Lawine ins Rollen bringen und eine Öffentlichkeit für sich schaffen. Was ihn konkret vom Saulus zum Paulus werden ließ, blieb unklar. Manche bezweifeln zudem seine Wandlung.

Politologen wie Journalistinnen und Journalisten versuchen seit Wochen, seiner Popularität auf die Spur zu kommen: Ist es die Hoffnung der oppositionellen Ungarinnen und Ungarn auf einen Messias, der aller Aussichtslosigkeit zum Trotz das Regime ablösen könnte? Ist es sein Insiderwissen, das ihn so viel authentischer erscheinen lässt als die Opposition? Oder verbreitet er einfach nur den gleichen Nimbus wie der einst junge, rebellische Viktor Orbán?

"Die Fidesz-kontrollierten Medien sind außer Rand und Band."

Tatsache ist, dass zumindest ein Teil der ungarischen Gesellschaft aus der Lethargie erwacht ist: Doch schon vor Magyars Auftauchen hatten junge Influencerinnen und Influencer eine Massendemonstration gegen Kindesmissbrauch und für die restlose Aufklärung der Affäre organisiert, die mehr als 100.000 Protestierende auf den Budapester Heldenplatz brachte. Magyar hatte sich mit einem weiteren, politisch schwammiger formulierten Demonstrationsaufruf lediglich an die Bewegung angehängt, brachte Wochen später dennoch mehr Menschen auf die Straße, zuletzt mehr als 10.000 im ostungarischen Debrecen, einer Hochburg Orbáns.

Die Fidesz-kontrollierten Medien sind außer Rand und Band. Gewohnt, die Themen festzulegen und selbstinitiierte "Diskussionen" mit ihrem Vokabular zu beherrschen, erscheinen sie plötzlich machtlos gegen den Hype: Einmal stilisieren sie Magyar zum Psychopathen oder brutalen Frauenschläger, ein andermal denunzieren sie ihn als einen von den USA bezahlten "Dollarlinken" oder Agenten des vor 15 Jahren abgehalfterten Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. Und wenn das alles nicht zieht, wird er als Träger einer Sonnenbrille für Frauen lächerlich gemacht. Auch die abgedroschenen Propagandaschablonen haben vorerst Pause: Zurzeit "überschwemmen" keine Emigrantinnen und Emigranten Ungarn, George Soros ist beurlaubt, Orbáns Rolle als Friedensapostel ist in den Hintergrund geraten – alle Rohre zielen auf Magyar.

Kein Programm

Gleichzeitig wird auf den (wenigen) unabhängigen Internetplattformen, in gedruckten Magazinen, in den Sendungen der letzten freien Radiostation kommentiert, analysiert und argumentiert – unterstützt von witzigen, aber auch scharfsinnigen Bloggern und Influencerinnen. Dabei sagt der Politstar nichts Neues und nicht mehr als die – erfolglose und zerstrittene – Opposition. Auch Magyar verweist auf den katastrophalen Zustand des Gesundheits- und Bildungswesens, die grassierende Korruption, die Günstlingswirtschaft. Inhaltlich wie rhetorisch gerät er mit seinem Redeschwall zudem schnell einmal ins Schwimmen: In Sachen Ukrainekrieg vertrat er zunächst Ansichten, die nahe an Verschwörungstheorien schrammten und musste zurückrudern. Die EU sieht er nicht unbedingt positiv, sondern pocht – wie Orbán – auf nationalstaatliche Souveränität, ohne jedoch auszuführen, wie die von ihm geforderte Mitgliedschaft bei der Europäischen Staatsanwaltschaft damit vereinbar wäre. Auf Kritik reagiert er gereizt, erklärte sich aber, als der Antikorruptionsaktivist und Abgeordnete Ákos Hadházy Ungereimtheiten bei Zahlungen von Magyars Studentenagentur an die Öffentlichkeit brachte, immerhin bereit, Rede und Antwort zu stehen, freilich erst nach den Wahlen.

Mit seiner "Partei des Respekts und der Freiheit", deren Akronym "Tisza" wortgleich ist mit dem ungarischen Namen für die "urungarische" Theiß, wird Magyar sowohl für die EU-Wahlen als auch für die Kommunalwahlen antreten. Ein Programm gibt es vorerst nicht – aber auch Fidesz legt ein solches seit Jahren nicht vor, und selbst die Oppositionsparteien bleiben, was Lösungsvorschläge für die derzeitige Misere betrifft, recht vage. Dennoch stellt ein beachtlicher Teil der ungarischen Gesellschaft Magyar gewissermaßen einen Blankoscheck aus: Laut seriösen Meinungsforschungsinstituten liegt Tisza – Stand Anfang Mai, Tendenz steigend – bei etwa 20 Prozent und hat damit die bisher stärkste Oppositionspartei, die linke "Demokratische Koalition", überholt.

Wahre Stärke

Für die EU-Wahl gilt ein Listenwahlrecht und nicht das undurchsichtige, für die Bedürfnisse der Orbán-Partei zurechtgezimmerte Verfahren für die Kommunalwahlen. Die Ergebnisse der EP-Wahl würden damit die Kräfteverhältnisse innerhalb der Opposition offenbaren und könnten das Parteienspektrum aus rechts, links und liberal wieder deutlicher abbilden: Magyar, der sich anfänglich als ideologiefrei deklarierte, hat sich inzwischen als nationalkonservativ positioniert und will sich bei einem Einzug in das Europäische Parlament der EVP anschließen. Für eine dezidiert linke Wählerschaft schafft dies vielleicht auch Klarheit für eine Wahlentscheidung für die Demokratische Koalition. Von Tisza gefährdet scheinen die Rechtsextremen, vor allem aber die liberalen und grünen Kleinparteien. Deren Nervosität zeigt sich darin, dass sogar die Spaßpartei, die "Partei des Hundes mit den zwei Schwänzen", ihre ernsthafte Seite entdeckte und begann, sich mit einer seriöseren Herangehensweise politisch einzubringen.

Ob Magyar der Fidesz tatsächlich Einbußen bereiten kann, bleibt aber offen: An deren haushohem Sieg scheint es weiterhin keinen Zweifel zu geben. Wiederum: Stand Anfang Mai 2024. (Béla Rásky, 13.5.2024)