Eine Hand hält eine offene Kondomverpackung, aus der ein rosa Präservativ heraussieht.
Ein Präservativ ist zu wenig, wenn man zwei Mal geschützten Geschlechtsverkehr haben will. Vor diesem Dilemma standen im März ein Mann und seine Bekannte.
APA / AFP / VALENTINE CHAPUIS

Wien – "Stealthing" nennt man die Praktik, beim einvernehmlichen Geschlechtsverkehr ein Kondom ohne Wissen der Partnerin oder des Partners zu entfernen und daher ungeschützten Sex zu haben. Wie oft das vorkommt, ist unklar, wissenschaftlich wurde das Phänomen erstmals im Jahr 2017 thematisiert. Herr R., ein unbescholtener 32-Jähriger, soll das mit einer Zufallsbekanntschaft am 9. März praktiziert haben, weshalb er sich nun wegen des Anklagepunkts der "Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung" vor Richter Philipp Krasa verantworten muss.

Der von Ernst Schillhammer verteidigte österreichische Angestellte bekennt sich nicht schuldig. Er sei damals mit Freunden nach Wien gekommen, man habe in einem Lokal ein Konzert besucht. Dort habe er eine 24-jährige Touristin kennengelernt, erinnert sich der Angeklagte. Vier Bier habe er in ebenso vielen Stunden getrunken, die Frau leerte in seiner Anwesenheit zwei Stück. Bereits in der Bar wurden Zärtlichkeiten ausgetauscht. Als seine Freunde ankündigten, dass sie nun heimfahren werden, fragte R. seine Bekanntschaft, ob er in ihrer Airbnb-Wohnung nächtigen könne.

"Sie hat Ja gesagt und mich gefragt, ob ich Kondome habe. Ich habe ihr gesagt, dass ich nur eines dabeihabe, worauf sie gesagt hat, wir sollen auf der Fahrt noch welche besorgen, da sie nur mit Kondom Sex hat." Das tat das Paar nicht, sondern fuhr ohne Zwischenstopp in die Mietunterkunft.

Geschlechtsverkehr bis zur Ejakulation

D. stellt die folgenden Ereignisse so dar: In der Wohnung habe die Frau sich sofort ausgezogen und begonnen, bei ihm ungeschützten Oralverkehr zu praktizieren. Man wechselte ins Bett, er stand nochmals auf, um das Präservativ zu holen und anzulegen, es folgte der Geschlechtsverkehr, den er mit einer Ejakulation beendete.

"Ich habe mir das Kondom heruntergenommen, sie wollte aber unbedingt weiter kuscheln, bevor ich es verknoten konnte. Deshalb habe ich es erst während des Schmusens noch in der rechten Hand gehalten." Erst nach einigen Minuten konnte er sich aus der Umarmung winden, stand auf und entsorgte die Gummiware im Mistkübel.

R.s Darstellung nach folgten 15 bis 20 Minuten Pause, dann begann die zweite Runde. "Wir haben uns ausgegriffen, sie hat auch meinen Penis berührt, und dann bin ich wieder in sie eingedrungen. Sie hatte nichts dagegen." – "Haben Sie es angesprochen, dass Sie kein Kondom mehr haben?", will der Richter wissen. "Nein, ich habe nicht daran gedacht", gibt der Angeklagte zu. "Warum nicht? Wegen sexueller Aufregung?", vermutet Krasa eine Blutunterversorgung des Gehirns. "Ja", sagt R. dazu. "Solche Kommunikationsprobleme führen zu Strafverfahren", gibt der Richter zu bedenken. Dem Angeklagten ist das nun bewusst, er beteuert aber, keine böse Absicht gehabt zu haben: "Ich will auch kein Kind haben!", stellt er klar.

Im Damenslip auf die Toilette

Bei diesem zweiten Geschlechtsverkehr war das technisch auch schwer möglich, da ihn seine Potenz im Stich ließ und er den Akt abbrach. "Danach wollte ich eigentlich aufs Klo, sie hat mich aber wieder umarmt und ließ mich nicht gehen", schildert R. weiter. Beim dritten Aufstehversuch wurde der Harndrang schon akut, er drückte die Frau weg und zog sich für den dringenden Besuch auf dem Gang-WC sogar ihren Slip an, da er seine Unterwäsche nicht fand.

"Als ich zurückkam, ist sie im Bett gesessen und hat plötzlich gesagt, dass ich sie vergewaltigt habe", behauptet der Angeklagte. Er legte sich zu ihr, sie habe ihn plötzlich mit der linken Hand am Hals gepackt und mit dem Pfefferspray in ihrer Rechten bedroht. "Sie hat verlangt, dass ich ihr meinen Namen, Adresse und Telefonnummer aufschreibe." – "Haben Sie die korrekt angegeben?", interessiert Krasa. "Der Name und die Adresse waren falsch, aber die Nummer war richtig, da sie das ja nachprüfen konnte", lautet die Antwort.

Es sei geschockt gewesen und habe sich danach rasch entfernt. So rasch, dass er sogar sein Mobiltelefon und seinen Gürtel in der Wohnung vergaß. Er kehrte also zurück und bekam sein Handy von der Frau wieder ausgehändigt. Kurz darauf erstattete die Frau beim Telefonnotruf der Polizei ihre Anzeige.

Schwere Vorwürfe der Zeugin

Bei der Exekutive erhob die Frau noch schwere Vorwürfe: Sie habe die Kondomentsorgung nicht bemerkt, es habe vor dem zweiten Geschlechtsverkehr durchaus noch Gespräche gegeben, sie habe R. beim zweiten Verkehr mehrmals aufgefordert, aufzuhören. "Können Sie sich die Vorwürfe erklären?", fragt Krasa den Angeklagten. "Nein, ich war selbst verwundert, als ich vom Klo zurückkam", meint dieser.

Die Frau sagt als Zeugin aus und bestätigt den Anfang der Geschichte. "Es war klar, dass wir gemeinsam zu mir gehen werden", erinnert sie sich an das Kennenlernen. Auch der erste Sex sei gut gewesen, sie will sich aber nicht mehr erinnern können, ob der Mann zum Orgasmus gekommen ist. Er sei jedenfalls plötzlich aufgestanden, habe ihr den Rücken zugekehrt und sei ein paar Schritte gegangen. "Ich glaube, dass er das Kondom entfernte", sagt sie nun vage vor Gericht.

In ihrer Geschichte habe es danach aber nur wenige Minuten gedauert, bis der Angeklagte wieder in sie eindrang, am Penis habe sie ihn davor nicht berührt. Nach fünf bis zehn Sekunden habe sie nach unten gegriffen und bemerkt, dass der Verkehr ungeschützt stattfand, sie habe ihn daraufhin ein oder zwei Mal aufgefordert, aufzuhören. "Ich habe dann vorgeschlagen, eine Zigarette zu rauchen, damit ich aus dem Bett komme", behauptet sie. "Dann bin ich zum Tisch gegangen und habe ihm mein Pfefferspray entgegengehalten", erzählt sie weiter. "Wie hat der Angeklagte darauf reagiert?", interessiert den Richter. "Er schien sehr überrascht und geschockt", lässt die 24-Jährige übersetzen.

Keine Gewalt, Sorge um Gesundheit

"Der Angeklagte behauptet, vorher noch die Toilette besucht zu haben. Können Sie sich daran erinnern?", stellt Krasa eine weitere Frage. "Das könnte sein, ich weiß es aber nicht mehr", entgegnet die Zeugin. Gewalt sei jedenfalls keine im Spiel gewesen, sie habe sich dennoch große Sorgen um eine Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten gemacht.

"Da gibt es aber schon große Abweichungen zu Ihrer polizeilichen Aussage", hält der Richter ihr vor. "Da sagen Sie noch, er habe definitiv in das Kondom ejakuliert und sei nachher aufgestanden. Heute sagen Sie, Sie wissen nicht einmal, ob er zum Orgasmus gekommen ist." – "Ich habe erst nach seinem Abgang im Mistkübel nachgesehen und das Kondom gefunden, daher wusste ich es", entgegnet die Zeugin. "Sie haben auch gesagt, sie haben ihn mehrmals und nachdrücklich aufgefordert, aufzuhören, heute sagen Sie ein oder zwei Mal", merkt Krasa auch an.

"Was haben Sie sich damals gedacht, als mein Mandant aufstand?", will Verteidiger Schillhammer darauf hinaus, dass ein nackter Mann in dieser Situation eigentlich nur eine Tätigkeit, nämlich die Kondomentsorgung, machen kann. "Ich wusste es nicht. Es hat sich mehr nach einer natürlichen Pause angefühlt." – "Haben Sie ihn nicht gefragt?" – "Nein." Die Zeugin stellt auch klar, dass sie alkoholisiert und übermüdet gewesen sei und deshalb die Verhütungsmethode nicht vor dem zweiten Geschlechtsakt kontrolliert habe. "Ich bereue, dass ich es nicht genauer überprüft habe." Die Anzeige habe sie auch gemacht, "um sicherzustellen, dass ich alle medizinischen Tests bekomme".

Zwei Stunden in der Wohnung

Der Angeklagte zeigt in seinem Schlusswort noch einen zeitlichen Widerspruch auf: Er sei an die zwei Stunden in der Wohnung gewesen. Wenn man der Version der Zeugin glaubt, hätte der erste Geschlechtsverkehr über eineinhalb Stunden dauern müssen, auf den nach wenigen Minuten die zweite Runde folgte.

Ein Umstand, den Krasa auch in seine Urteilsbegründung einbaut. "Es ist ganz klar, dass Sie freizusprechen sind! Da Sie die Wahrheit gesagt haben", ist der Richter überzeugt. "Ich glaube auch nicht, dass die Zeugin bewusst die Unwahrheit sagt, aber sie kann sich eben nur so erinnern", ortet er Erinnerungslücken. "Zum Beispiel, dass Sie mit dem Slip der Frau aufs WC gegangen sind – so was kann man nicht erfinden. Sie weiß davon aber nichts mehr", weist Krasa auch darauf hin, dass die 24-Jährige damals bereits zwei Nächte nicht geschlafen hatte. "Ich bin mir auch sicher, dass sie Ihren Penis vor dem zweiten Mal berührt hat."

In Zukunft solle er in so einer Situation aber von selbst aktiv werden und den Latexmangel ansprechen, rät Krasa dem Freigesprochenen noch. Wobei: "Ich glaube, wenn die Zeugin schon bei der Polizei so ausgesagt hätte wie heute, wäre es nie zu einer Verhandlung gekommen." Da der Staatsanwalt keine Erklärung abgibt, ist das Urteil noch nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 8.5.2024)