Antikriegsproteste in Boston im Oktober 1965.
AP/Frank C. Curtin

Vietnam, das ist in den USA das Synonym für das ultimative nationale Trauma. Erst vor drei Jahren musste es angesichts des chaotischen Abzugs aus Afghanistan für einen Vergleich herhalten, und auch aktuell ist es wieder in aller Munde. Grund dafür sind die Proteste an US-Universitäten gegen den Gazakrieg. Politiker wie der nimmermüde Bernie Sanders, der erneut für den Senat kandidieren will, oder die demokratischen Abgeordneten Cori Bush und Ilhan Omar ziehen Parallelen zwischen den Antikriegsdemos der 1960er- und 1970er-Jahre – und dabei vor allem das Jahr 1968 – und den heutigen Protesten. Auch die New York Times konstatierte bereits: "Der Geist der Antikriegsbewegung von 1968 ist zurückgekehrt." Vor allem die Protestierenden selbst verweisen immer wieder auf die Mutter der Antikriegsproteste. Doch ist der Vergleich gerechtfertigt, oder hinkt er gewaltig?

Die offensichtlichste Parallele: In beiden Fällen wurde gegen einen Krieg demonstriert. Gleichzeitig findet sich hier aber auch gleich der größte Unterschied: Im Vietnamkrieg (1955–1975) waren die USA ab 1964 offiziell direkt involviert, während sie im Gazastreifen keine Kriegspartei sind, sondern Israel militärisch und politisch unterstützen, wenn auch mit kritischen Untertönen. In Vietnam starben letzten Endes fast 60.000 US-Soldaten. Bis 1968, dem inoffiziellen Höhepunkt der Antikriegsbewegung, waren es bereits mehr als 16.000 Tote. Insgesamt waren während des Kriegs rund 2,7 Millionen US-Soldaten in Vietnam stationiert, 1,6 Millionen davon im Kampfeinsatz. Zum Vergleich: Im Gazakrieg hatte Washington den Tod einiger weniger US-Staatsbürger zu beklagen, die als Geiseln genommen wurden.

Verbindungen zu Israel kappen

Folglich sind auch die grundsätzlichen Forderungen der Demonstrierenden andere: 1968 ging es um nichts Geringeres als das Ende des Kriegs, sicher auch befeuert durch die Tatsache, dass jedem jungen Mann in den USA die Einberufung nach Vietnam drohte. Denn Washington hatte für den Krieg in Südostasien die Wehrpflicht eingeführt. Bei den Gaza-Protesten geht es im Grundsatz auch um ein Kriegsende, aber konkret vor allem darum, dass die Unis alle Verbindungen zu israelischen Hochschulen kappen sollen. Auch soll die Zusammenarbeit mit Institutionen und Firmen beendet werden, die Israel unterstützen.

An der University of California in San Diego werden Protestierende am Einlass gehindert.
AP/Denis Poroy

Ein großer Unterschied findet sich – auf dem jetzigen Stand – in der Dimension der Proteste. 1968 und danach nahmen an Demos zehn- oder hunderttausende Menschen teil, davon ist man aktuell mit seinen Protestcamps an mehr als 50 Unis und bislang mehr als 2000 Festnahmen noch weit entfernt. Robert Cohen, Geschichtsprofessor an der New York University, sagte der Nachrichtenagentur AP dazu: "Ich würde sagen, das sind die größten Proteste in den USA im 21. Jahrhundert. Aber das ist wie zu sagen, das ist das größte Gebäude in Wichita, Kansas." Allerdings darf man hier nicht vergessen, dass die Protestbewegung 1968 schon einige Jahre alt war, während es die aktuellen Demos erst seit wenigen Monaten gibt.

"Das waren keine Studenten"

Ganz anders wurde auch umgegangen bei der Frage, ob Gewalt eingesetzt werden darf. Die aktuellen Proteste laufen weitgehend friedlich ab, mal abgesehen von kleineren Verletzungen durch vereinzelte Zusammenstöße, konstatiert Kevin Kruse, Professor an der Princeton University, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Damals aber, vor allem im Jahr 1970, kam es zu folgenschweren Gewaltausbrüchen. An der Kent State University etwa wurde im Februar ein Ausbildungsgebäude der US-Streitkräfte in Brand gesteckt, Anfang Mai folgte ein Gebäude der Air Force. "Das waren keine Studenten, die in Zelten auf der Wiese gesessen sind", sagte Kruse.

4. Mai 1970: An der Kent State University geht die Nationalgarde zunächst mit Tränengas gegen die Demonstrierenden vor. Später werden 67 Schüsse fallen.
AP/Larry Stoddard

Auf der anderen Seite bleibt wohl vor allem das Massaker an ebenjener Kent State in trauriger Erinnerung. Am 4. Mai 1970 versuchte die Nationalgarde zunächst vergeblich, eine nichtgenehmigte Demo mit Tränengas aufzulösen. Schließlich feuerte sie, ohne bedroht zu werden, binnen 13 Sekunden 67 Schüsse in die Menge. Vier Menschen wurden getötet, weitere zum Teil schwer verletzt. Das Blutbad löste weitere Proteste aus, auch außerhalb der USA (in Melbourne, Australien, etwa demonstrierten 100.000 Menschen), außerdem kam es zum größten Studierendenstreik in der Geschichte des Landes mit mehr als acht Millionen Teilnehmern. Der spätere Prozess gegen acht Nationalgardisten wurde im Übrigen eingestellt. Vergangenen Samstag jährte sich das Massaker zum 54. Mal, auch aus diesem Anlass wurden von vielen die damaligen mit den heutigen Protesten in Verbindung gesetzt.

Auch kam es durch das Massaker zu einer weiteren Radikalisierung von Teilen der Antikriegsbewegung. Aus Protest gegen die Zusammenarbeit der University of Wisconsin-Madison mit dem US-Militär führten vier Männer im August 1970 einen Bombenanschlag auf dem Uni-Campus durch. Dabei wurde ein Wissenschafter getötet.

Die Folgen des Bombenattentats in der Sterling Hall derUniversity of Wisconsin-Madison.
AP/Bruce Fritz

Derlei Gewalt ist aktuell bisher ausgeblieben. Doch Mark Naison ist nicht der einzige, der meint, dass man davon nicht so weit entfernt sei. 1968 Teil der Protestbewegung, lehrt er nun an der Fordham University in New York. Er habe das Gefühl, sagt er gegenüber AP, dass es nur einen folgenschweren Moment brauche, damit es zu einer Tragödie komme. "Die Leute sind verängstigt", sagt Naison.

Dekan festgesetzt

Eine eindeutige Parallele gibt es an der Columbia University in New York, die von den Demonstrierenden aber wohl auch genauso geplant war. 1968 wurde die dortige Hamilton Hall mehrere Male besetzt, einmal ist sogar Dekan Henry S. Coleman in seinem Büro festgesetzt worden, indem man die Tür mit Möbeln verbarrikadierte. Er wurde mit Essen versorgt, bis er nach 24 Stunden freigelassen wurde. Auch im Jahr 2024 wurde Hamilton Hall besetzt, diesmal wurde die Aktion am 30. April von einem Großaufgebot der Polizei beendet.

2. Mai 2024: Nachdem die Besetzung an der Columbia University beendet worden ist, gibt es strenge Kontrollen.
AP/Yuki Iwamura

Was die Studierenden betrifft, so ist die Zusammensetzung mittlerweile eine ganz andere. 1968 waren die meisten von von den 7,2 Millionen Studenten männlich und weiß. Mittlerweile sind laut dem National Student Clearinghouse Research Center nur noch 41 Prozent der mehr als 15 Millionen Studierenden weiß. 18 Prozent sind Latinos, elf Prozent schwarz und sechs Prozent Asiaten. Zudem sind Frauen mittlerweile in der Mehrheit. Auch gibt es inzwischen einen erwähnenswerten Anteil muslimischer Studierender. So sehr diese Diversität zu begrüßen ist, so erschwert sie auch ein gemeinsames Vorgehen. Linke jüdische Studierende, muslimische und säkulare Palästinenser, schwarze Aktivisten und viele Gruppen mehr: "Wie lange so eine Koalition hält, muss sich noch zeigen", zitiert die Zeit den Historiker Manfred Berg.

Juden angefeindet

Und dann, monieren Beteiligte von heute und Zeitzeugen von damals, gibt es noch folgenden Unterschied: Gegen Krieg und für Frieden zu sein, darauf konnte man sich damals schnell einigen. In Sachen Gazakrieg aber gibt es viele Zwischentöne, auch antisemitischer Natur, was viele abschreckt mitzumachen. Jüdische Studierende werden angefeindet, sodass sie sich gar nicht mehr auf den Campus trauen. Jack Radey war damals dabei, als Anfang der 1960er-Jahre die Proteste an der University of California begannen. Gegenüber AP sagt er: "Wir haben jene, die nicht mitgemacht haben, nicht als Idioten oder Verräter angesehen, sondern als jene, die es zu überzeugen galt. Das schafft man aber nicht mit Gewalt oder extremer Rhetorik."

Dezember 1971: Vietnamveteranen, nachdem sie ihre 40-stündige Besetzung der Freiheitsstatue beendet haben.
AP/Anthony Camerano

Was die Proteste 1968 noch weiter angefacht hat, war ein Massaker von US-Soldaten im vietnamesischen Dorf Mỹ Lai, bei dem 504 Zivilisten getötet wurden. Ein Kriegsverbrechen in solch einer Dimension ist in Gaza bislang ausgeblieben. Dem am nächsten kam wohl der Vorwurf gegen Israel, Massengräber in Khan Younis angelegt zu haben. Dieser Vorwurf hat sich bislang aber nicht erhärtet.

Mit zu den Protesten 1968 haben auch die Medien beigetragen. Der Vietnamkrieg gilt als erster "Fernsehkrieg" oder "Wohnzimmerkrieg", weil man zum ersten Mal über TV so viel von einem Krieg mitbekommen hat. Trotzdem ist das nicht vergleichbar mit dem Jahr 2024, in dem die sozialen Medien weit mehr Einblicke ermöglichen. "Instagram, Tiktok, man kriegt Bilder 24 Stunden am Tag", zitiert Reuters Christianna Leahy, die am McDaniel College in Maryland lehrt.

Lyndon B. Johnson verzichtet

Grundsätzlich war die Stimmung in den Vereinigten Staaten vor 56 Jahren sowieso schon sehr explosiv. Bürgerrechtler Martin Luther King wurde ermordet, wenig später Robert F. Kennedy, der sich im demokratischen Präsidentschaftsvorwahlkampf in guter Position befand. Die Wahl ist eine große Parallele, die 1968 mit 2024 verbindet. Amtsinhaber Lyndon B. Johnson, der auf den zuvor erschossenen John F. Kennedy folgte, verzichtete auf eine weitere Kandidatur. Die von ihm verfügte Ausweitung des Vietnamkriegs ließ seine Zustimmungswerte drastisch sinken, im parteiinternen Rennen gegen seinen Vize Hubert H. Humphrey und den aufstrebenden Robert F. Kennedy hätte dem Demokraten wohl eine Niederlage gedroht, auch war er gesundheitlich angeschlagen.

Darauf spielte Bernie Sanders auch an, als er Präsident Joe Biden jüngst warnte, die aktuellen Proteste könnten "sein Vietnam" werden, wodurch er sein Amt verlieren könnte. Das trifft insofern einen Punkt, als dass bei Biden aufgrund seines Alters in Verbindung mit verwirrenden Wortspenden und seiner bescheidenen Umfragewerte immer wieder Diskussionen entstanden waren, ob es für die Demokraten nicht besser gewesen wäre, hätte er auf eine weitere Kandidatur verzichtet. Das ist nicht der Fall, und mittlerweile ist es dafür zu spät.

Die Uni-Proteste setzen Präsident Joe Biden unter Druck.
AFP/DREW ANGERER

Es gibt aber noch andere Parallelen hinsichtlich der US-Demokraten. Damals wie heute wird ihnen vorgeworfen, die Bedenken junger Menschen nicht ernst zu nehmen. Damals wurde der Vietnamkrieg weitergeführt und 1969 sogar auf Kambodscha ausgeweitet. Heute hält Präsident Biden unbeirrt an der Unterstützung des engen Verbündeten Israel fest, auch wenn die USA Druck ausüben in Sachen Waffenruhe und humanitäre Hilfe für Gaza.

Bernie Sanders spricht da für viele, wenn er sagt: "Ich befürchte, Präsident Biden wird sich in eine Position manövrieren, in der er sich von den jungen Menschen und der demokratischen Basis entfremdet." Bei diversen demokratischen Vorwahlen, bei denen Biden keine ernsthafte Konkurrenz hat, kreuzten insgesamt schon mehr als hunderttausend Wähler aus Protest gegen die Nahostpolitik des Präsidenten "uncommitted" ("neutral") an, was einem leeren Stimmzettel gleichkommt.

Zusammenstöße beim Parteitag

Dann gibt es noch eine klare Parallele: Beim demokratischen Parteitag (DNC) im August 1968 wurde Humphrey zum Präsidentschaftskandidaten gekürt, er sollte später Richard Nixon unterliegen. Protestgruppen sprachen sich untereinander ab, um gemeinsam die Veranstaltung zu stören. An die 10.000 Demonstrierende trafen auf mehr als 20.000 Polizisten und Nationalgardisten. Mehr als eine Woche lang kam es immer wieder zu Zusammenstößen mit vielen Verletzten.

August 1968: Demonstrierende und Nationalgarde stehen sich in Chicago vor dem Hotel gegenüber, in dem der Demokratische Parteitag stattfindet.
via REUTERS/Library of Congress/

Der Parteitag fand in Chicago statt, so wie er auch heuer im August dort über die Bühne gehen wird. Gruppierungen formieren sich unter dem Motto "March on DNC 2024", auf der Webseite steht prominent: "Der Marsch auf den Parteitag wird ein Marsch für Palästina!" Schon jetzt ist ein Streit darüber entbrannt. Protestgruppen kritisieren, dass die Stadt Demonstrationen direkt vor dem Veranstaltungsort nicht zulassen will, und haben deshalb Klage eingereicht. Auch haben Aktivisten bereits angekündigt, "mit oder ohne Erlaubnis" direkt vor dem Parteitag demonstrieren zu wollen.

Der nächste Kennedy

Zuletzt gibt es noch eine, wenn auch in seiner Bedeutung eher bescheidene Parallele zwischen 1968 und 2024. Damals trat wie erwähnt Robert F. Kennedy an, um ins Weiße Haus einzuziehen, bis er von einem Palästinenser erschossen wurde. Auch heuer tritt ein Robert F. Kennedy an, allerdings mit dem Zusatz "Junior", denn er ist der Sohn. Doch während der Vater ernsthafte Chancen auf einen Wahlsieg hatte, ist sein Spross, der als Parteiloser antritt, eher eine Wahlkuriosität, die durch Verschwörungstheorien negativ auffällt.

Zu hoffen bleibt schließlich, dass der Welt eine weitere Parallele erspart bleibt. Denn von 1968 hat es noch ganze sieben Jahre gedauert, bis der Vietnamkrieg beendet wurde. (Kim Son Hoang, 8.5.2024)