SPÖ-Chef Andreas Babler am Wiener Rathausplatz – erstmals als Redner auf der Bühne.
Heribert Corn

Andreas Babler schüttelt den Kopf, nicht ablehnend, seine Geste soll sagen: Wahnsinn. Marina Hanke hat gerade das Rednerpult verlassen. Er umarmt sie, "danke", ist seinen Lippen abzulesen. Hanke, die über Wien hinaus eher unbekannte Frauenvorsitzende der Hauptstadt-SPÖ, ist seit Jahren jene Rednerin beim roten Maiaufmarsch am Rathausplatz, die den meisten Applaus bekommt. Heute war die 33-Jährige erstmals Bablers Einpeitscherin.

"All das werden wir erreichen mit einem Bundeskanzler Andreas Babler!", rief sie am Ende ihrer kämpferischen Ansprache. "Mit. Herz. Und. Hirn!", brüllte sie ins Mikrofon. Als Babler die Bühne betritt, ist die Menge aufgeheizt, erwartungsschwanger. Und es ist Bablers Paradedisziplin, die er gleich zum Einsatz bringen wird: eine Rede vor Genossen; seine erste Mairede als Bundesparteivorsitzender der SPÖ. Zehntausende Menschen sind gekommen, um ihm zuzuhören. Er spricht zu seinem selbsternannten und vermutlich einzigen Machtzentrum in der Partei: der Basis.

Marina Hanke, Frauenchefin der SPÖ Wien, und Bürgermeister Michael Ludwig auf der Bühne hinter einer Gruppe Bläsern.
Heribert Corn

Babler beginnt seine Ansprache – wie so oft – mit seiner Lebensgeschichte. Es ist bekannt, dass er an seinen Reden lange und bis zuletzt feilt, sie aber dann spontan abändert – wodurch er schlussendlich oft recht Ähnliches sagt. An diesem Mittwoch kommt Babler, ein Schnellredner, aber rasch zum Punkt, oder vielmehr: zu seinen zwei Kernbotschaften für die kommenden Monate.

Schon vor mehreren Wochen war aus der SPÖ zu hören, dass Babler im Wahlkampf vor allem auf zwei "Strategien", wie es hieß, setze. Seine erste "Wahlkampfstrategie" sei es, Blau-Schwarz zu verhindern. Die zweite "Wahlkampfstrategie" Bablers: die Vorzüge einer roten "Reformkanzlerschaft" vermitteln. Nach wenigen Minuten hat Babler am Rathausplatz beide Punkte abgehandelt. Es brauche "neue Ideen", den Aufbruch in eine "neue Zeit" – und natürlich: Herz und Hirn.

Laufen für die "Kinderrechte-Republik"

In seiner "Herz-und-Hirn-Rede" hatte Babler am Wochenende die inhaltlichen Weichenstellungen für den Wahlkampf gestellt. Er fordert eine Garantie auf Facharzttermine, Gratismittagessen in Kindergärten und Schulen, einen 20 Milliarden schweren "Transformationsfonds", mehr Polizei – seine "24 Projekte" bestehen aus zahlreichen bekannten Ideen und ein paar neuen Vorschlägen.

Jetzt geht es darum, dass seine Genossinnen und Genossen im Wahlkampf für ihn laufen, Flyer verteilen, Menschen überzeugen. "Wir machen aus dieser Republik eine Kinderrechte-Republik", ruft er in die Menge. "Bravo", brüllen ein paar Männer mit roten Fahnen zurück. In Wien kommt Babler gut an, auch wenn selbst in der SPÖ bezweifelt wird, dass die Landespartei so stramm hinter ihm steht, wie beteuert wird.

"Keine autoritäre Wende"

"Wir wollen keine schwarz-blaue autoritäre Wende", ruft Babler. Es gehe um eine "Richtungsentscheidung": die FPÖ oder er. Die Umfragen sagen: die FPÖ. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig hatte zuvor in seiner Rede betont, dass eine Koalition mit den Freiheitlichen "nicht infrage" komme. Mehrere gewichtige Genossen hatten vor ein paar Wochen Zweifel geäußert, ob die SPÖ nicht doch für eine Koalition mit der FPÖ offen bleiben müsse. Die SPÖ kommt einfach nicht zur Ruhe derzeit.

Wiens Bürgermeister und SPÖ-Chef Michael Ludwig mit dem roten Fähnchen mit den drei Pfeilen: dem Symbol für den Kampf der Arbeiterbewegung gegen Faschismus, Klerikalismus und Kapitalismus.
Heribert Corn

Auf dem Rathausplatz überzeugt Babler aber offenbar viele seiner Genossen. "Wir müssen jetzt alle auf ihn setzen", sagt ein Sozialdemokrat, der zuhört. Auch Ludwig hatte auf der Bühne erklärt, dass Querschüsse nun der Vergangenheit angehören müssten. Schließlich ist Wahlkampf. In Wien steht sogar ein sehr langer bevor: Nach EU-Wahl und Nationalratswahl wählt die Hauptstadt im Herbst 2025.

Auf der Kundgebung zweifelt kaum jemand, dass rote Erfolge möglich sind. Für die SPÖ ist der 1. Mai quasi der höchste Feiertag, ein Tag der Hoffnung. "Sozi-Weihnachten", sagen Sozialdemokraten scherzhaft selbst. Es ist ein Tag, an dem sich inzwischen alle um Einigkeit bemühen. Bis heute sitzt vielen in der Partei das Trauma von 2016 in den Knochen, als der damalige SPÖ-Chef und Bundeskanzler Werner Faymann auf dem Rathausplatz von seinen Genossen ausgebuht wurde – und kurz darauf zurücktrat. "Genau seit diesem Tag ist der Umgang miteinander schlechter geworden", sagt eine Sozialdemokratin vor Ort.

Zurück zur "Prügelstrafe"?

Offiziell stand die Kundgebung heuer im Zeichen der EU-Wahl: "Wir in Wien stehen für ein faires Europa", war das Motto. Allerdings fand die EU nur in wenigen Reden Erwähnung. Es war vor allem EU-Spitzenkandidat Andreas Schieder, der von einem "Kampftag für ein besseres Europa und für Frieden" sprach. Große Teile der Partei schwören sich bereits auf die Nationalratswahl ein.

"Wie ein Bollwerk stehen wir auf, um die demokratischen Grundpfeiler zu schützen", ruft Babler bei seiner Rede in die Menge. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht, er zwickt die Augen zusammen, hinter ihm wacheln ein paar rote Funktionäre mit Fähnchen. Die Sozialdemokratie stehe für einen starken Sozialstaat, für die Verteidigung der Krankenleistungen – ganz anders als ÖVP und FPÖ. Vor ein paar Tagen wurde durch die Industriellenvereinigung eine Debatte über eine Arbeitszeitverlängerung angestoßen. "Was kommt als Nächstes?", fragt Babler. "Die Prügelstrafe?" Er wolle sich nicht mit "solchen Schwachsinnigkeiten" beschäftigen. "Wir zeigen, wie es geht – mit Herz und Hirn für Österreich."

SPÖ-Chef Andreas Babler schreibt seine Reden gerne spontan um oder hält sie gleich ganz anders als geplant.
Heribert Corn

Ganz am Ende, bevor die Kundgebung geschlossen wurde, stellt sich Babler auf der Bühne noch einmal ganz nach vorne. Er winkt, genießt kurz den Applaus, dann nimmt er seine rechte Hand und klopft sich ans Herz – eine Geste, für die er inzwischen bekannt ist. Sich ans Hirn zu tippen käme wohl auch nicht so gut an. (Katharina Mittelstaedt, 1.5.2024)