Lotte Bailyn
Lotte Bailyn, Tochter von Maria Jahoda, die vor allem mit der Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" bekannt ist, hat ein Essay zu dem Buch beigetragen.
Heribert Corn

Ein großes Haustor gab den Weg frei ins Zuhause der Familie Jahoda in der Wiener Seidlgasse. Das Tor schmückte der holzgeschnitzte Kopf eines brüllenden Löwen. Man dürfe dem Löwen nicht die Finger ins Maul stecken, erklärte man der kleinen Marie, er könnte beißen.

Das Mädchen hatte Zweifel. "Die Gelegenheit kam, als meine Mutter in der Nähe stand und mit irgendjemandem redete – eine notwendige Experimentalbedingung für den Fall, dass ich Hilfe brauchte. Ich nahm allen Mut zusammen, reckte mich und steckte dem Löwen einen Finger ins Maul. Er biss nicht." Von dieser ersten Alltagsforschung erzählt Marie Jahoda in ihren Erinnerungen mit dem Titel Rekonstruktionen meiner Leben, welche erstmals als vollständiger Text in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Verhaftung und Flucht

Marie Jahoda studierte am Institut für Psychologie bei Charlotte Bühler und schloss mit einer Dissertation über Lebensgeschichten in Armenhäusern Wiens ab. Ein Jahr trug sie im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Daten zusammen für die darstellenden Statistiken Otto Neuraths. Sie unterrichtete als Hilfslehrerin an Volksschulen. Und sie untersuchte die Arbeitslosen von Mariental.

Wien war in den 1920ern nicht nur ein guter Boden für neue Ideen in Kunst, Politik und Wissenschaft, sondern auch für Nationalismus und Antisemitismus. Wegen ihres politischen Engagements wurde Jahoda im Ständestaat inhaftiert und kam unter der Bedingung, das Land sofort zu verlassen, frei. Sie floh nach England. Ihre Tochter Lotte war mit dem Vater Paul Lazarsfeld bereits nach New York emigriert. Die Trennung von Lotte und das spätere Pendeln zwischen den USA und England sei so, als "wenn einem der Atlantische Ozean quer durch das Herz geht". Vom Exil aus riet sie ihrer in Wien zurückgebliebenen jüdischen Familie, sich in Sicherheit zu bringen. "Edi lehnte ab und meinte, ich sei überängstlich." Wenige Tage später marschierte Hitler in Österreich ein.

Buchcover
Marie Jahoda, "Rekonstruktionen meiner Leben". Mit einem Essay der Tochter Lotte Bailyn. € 34,– / 264 S. mit 50 Abbildungen. Edition Konturen, Wien 2024
Verlag

Viele Leben

Der Text des Buches ist persönlich gehalten und doch auch mit dem Blick der Sozialwissenschafterin geschrieben, neugierig und distanziert zu sich selbst. Eigentlich unglaublich, was für ein Leben geschildert wird: Gefängnis, Lebensbedrohung, Krieg, Trennungen, immer wieder neu anfangen, immer wieder einen neuen Job suchen. Die Zeitperspektiven wechselt sie mehrmals, am Schluss hören wir eine 90-Jährige sprechen, die durch mangelnde Sehkraft schwer beeinträchtigt ist.

In England angekommen, begann Jahoda eine Forschungsarbeit über eine Genossenschaft arbeitsloser Bergarbeiter in Südwales. Als sie in Bristol lebte, widmete sie sich einer Studie über Mädchen in Papierfabriken. Jahoda arbeitete auch mehrere Monate in der Fabrik mit. Dort spielt sie wieder ihre Stärke aus: den Finger in das Löwenmaul zu stecken – mit ihrem empirischen Blick auf die konkrete Lebenswelt und ihrem Interesse für Probleme von Menschen, die nicht im Licht stehen. (Martin Schenk, 28.4.2024)