"Schreib, wie du sprichst", so lautet ein alter Merkspruch aus der Schreibdidaktik. Das Problem mit ihm ist: Er hat noch nie gut funktioniert, denn wir schreiben anders, als wir sprechen. Wir schreiben in der Regel standardisiertes Hochdeutsch (Standarddeutsch), wie es in der Schule unterrichtet wird, aber wir sprechen einen Dialekt oder eine regionale Umgangssprache (siehe Zwischen Mötz, Diandl und Mädl), wie wir sie von unseren Eltern und unserem persönlichen Umfeld aufgenommen haben. Das gilt natürlich nicht nur für Österreich, sondern auch für Deutschland und die anderen deutschsprachigen Länder und Regionen. Selbst da, wo die alten Dialekte nicht mehr gesprochen werden, wie im Norden Deutschlands, unterscheidet sich die gesprochene Sprache von der Schriftsprache.

Standarddeutsch, wie es im Buche steht, wird allenfalls von einer kleinen Gruppe von Sprecher:innen in bestimmten Situationen gesprochen (siehe Das Gefühl, Hochdeutsch zu sprechen): Das beste Beispiel dafür sind professionelle, geschulte Nachrichtensprecher:innen – die ihre Texte allerdings in der Regel ablesen, also Geschriebenes vermündlichen. Die Art, wie wir normalerweise sprechen, taugt nicht als Basis für eine standardgetreue Verschriftung; und wenn wir tatsächlich Standarddeutsch sprechen, dann sprechen wir "nach der Schrift". Die Standardsprache ist also vor allem die Sprache des geschriebenen Mediums, und die Dialekte und Umgangssprachen sind im eigentlichen Wortsinn "Mundarten".

Wenn wir von "Hochdeutsch" reden, meinen wir meist Standarddeutsch. (Sprachwissenschaftlich wird dagegen unter "Hochdeutsch" eine große Dialektgruppe verstanden, zu der auch die österreichischen Mundarten gehören, aber nicht das in Norddeutschland beheimatete Niederdeutsch oder "Platt".) Standarddeutsch ist eine normierte Form der Sprache, die in unter anderem Wörterbüchern und Grammatiken festgehalten ist und für den gesamten deutschsprachigen Raum gilt. Dabei gibt es zwar nationale und regionale Unterschiede, die sich aber im Vergleich zu den teils großen Unterschieden zwischen verschiedenen Dialekten sehr in Grenzen halten, auch wenn manche davon stark im Bewusstsein verankert sind (siehe Piefke, Preissn und Co). Die Standardsprache hat eine gewisse Verbindlichkeit, es wird erwartet, dass man sich in bestimmten Kontexten an sie hält – das gilt für den schulischen Bereich, für die behördliche Kommunikation und für formelle Situationen, zum Beispiel vor Gericht. Anders als Dialekte, die man als Muttersprache mehr oder weniger automatisch erwirbt, beherrscht man die Standardsprache jedoch nicht ohne Zutun; sie muss aktiv durch Instruktion erlernt werden, und das geschieht in der Schule.

Von Richtig und Falsch in der Sprache

Dort lernt man auch, dass es in der Standardsprache ein "Richtig" und ein "Falsch" gibt. Die Vorstellung eines "korrekten" Deutsch gibt es so nur im Standard. Im Dialekt gibt es Dinge, die man sagt, und Dinge, die man nicht sagt, aber niemand bekommt in der Schule einen Fünfer, weil er oder sie den Dialekt nicht richtig kann. Für fehlerhaftes Standarddeutsch, für falsche Rechtschreibung gibt es dagegen womöglich Punktabzug, und mit einem schlampig verfassten Bewerbungsschreiben vergrößert man nicht seine Erfolgsaussichten auf einen Job.

Die Vorstellung, dass Sprache korrekt sein müsse, ist Bestandteil einer sprachlichen Ideologie, die als Standardsprachenideologie bezeichnet wird. Sprachlichen Ideologien wie diese sind tief in unserem (Unter-)Bewusstsein verankert, sie sind in der Gesellschaft allgegenwärtig und werden kaum hinterfragt. Sie kommen aber auch mit problematischem Ballast daher, weil sie immer mit Wertungen und Bewertungen von Sprachgebrauch verbunden sind, die potenziell stigmatisieren und sogar diskriminieren können: Wenn die Standardsprache "korrekt" ist, dann folgt daraus im Umkehrschluss, dass der Dialekt (und andere Sprachformen, zum Beispiel der Sprachgebrauch von Minderheiten) nicht "korrekt", ja "falsch" sei – selbst in einem Land wie Österreich, in dem der Dialekt generell wertgeschätzt wird, wird der Dialekt so häufig implizit stigmatisiert. Wenn Kinder dazu aufgefordert werden, "schön" zu sprechen und damit Standarddeutsch gemeint ist (siehe Schön sprechen), was wird dann damit über den Dialekt transportiert?

Eine Frau und ein Mann reden miteinander
Mit einer Standardsprache sind sprachliche Wertvorstellungen verbunden.
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Die Bewertungen, die mit nichtstandardsprachlichen Sprechweisen verbunden sind, übertragen sich auch auf deren Sprecher:innen, was für diese ganz reale Folgen haben kann, etwa auf dem Arbeitsmarkt. So hat jüngst eine Metastudie gezeigt, dass Bewerber:innen mit einem erkennbaren Dialekt oder fremdsprachlichen Akzent Benachteiligungen beim Bewerbungsverfahren erfahren, unter anderem weil sie bei gleicher Qualifikation und Eignung als weniger kompetent eingeschätzt werden. Dabei ist das ein klarer Verstoß gegen die EU-Charta der Grundrechte, die auch Diskriminierungen aufgrund von Sprache verbietet (Art. 21).

Mit einer Standardsprache sind also sprachliche Wertvorstellungen verbunden, deren wir uns nur teilweise bewusst sind und die Konsequenzen für die Einschätzung von allem haben, was von ihr abweicht. Die Sprachstandardisierung prägt damit unsere Wahrnehmung unserer angestammten Sprechweise: Die Standardsprache wird nicht nur als richtiger, als besser und als schöner wahrgenommen, sondern auch als ursprünglicher. Nicht selten treffen wir als Sprachwissenschaftler:innen auf die Vorstellung, die Dialekte seien quasi schlampig ausgesprochene oder abgeschliffene Standardsprache, und dass früher, als eh alles besser war, alle das Standarddeutsche auch besser beherrscht hätten als heute. Das Gegenteil trifft zu: Nicht die Standardsprache war zuerst da, sondern die Dialekte; die Standardsprache hat sich letztlich aus den Dialekten entwickelt – ja, sie wurde (über Umwege) auf der Basis der Dialekte entwickelt. Die Beherrschung der Standardsprache – mit anderen Worten, die Beherrschung der Schriftsprache – von breiten Teilen der Bevölkerung hat über die vergangenen Jahrhunderte nicht ab-, sondern klar zugenommen. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts war nicht mehr als die Hälfte der Bevölkerung im deutschsprachigen Raum alphabetisiert, war also noch kaum mit der Standardsprache in Berührung gekommen.

Von der Erfindung des Standarddeutschen

Dabei ist die sprachliche Standardisierung menschheitsgeschichtlich gesehen ein äußerst junger Vorgang: In Europa begann sie in der frühen Neuzeit, etwa mit der Erfindung des Buchdrucks, anderswo noch wesentlich später, vor allem als westliches Exportprodukt. Sie ist als Idee gerade einmal ein halbes Jahrtausend alt. (Eine Ausnahme bilden "tote" Sprachen wie Latein oder Sanskrit, die schon allein dadurch, dass sie keine Muttersprachler:innen mehr haben, eine relativ feste Form angenommen haben.) Die Schätzungen, seit wann der Mensch spricht, gehen weit auseinander, aber liegen im Bereich von einigen Hunderttausenden von Jahren – mit anderen Worten, der Mensch hat gerade erst begonnen, seinen Sprachen eine einheitliche Form zu verpassen.

Für die Sprachwissenschaft bedeutet das auch, dass die Dialekte so etwas wie Sprache in ihrem naturbelassenen Aggregatszustand darstellen und deshalb als Untersuchungsobjekt besonders interessant sind (siehe Wie und warum werden Dialekte erforscht?). Darauf weisen auch die Sprachwissenschaftler Gunther de Vogelaer und Guido Seiler hin, wenn sie die Dialekte als ideales "Testgelände" für Sprachwandeltheorien bezeichnen, denn nur dort findet Sprachwandel quasi unverfälscht, ohne bewusste Interventionen statt, die ein Kennzeichen von Standardsprachen sind. Der Linguist Helmut Weiß spricht von "semi-natürlichem" Sprachwandel im Standard: Während sich die Dialekte "natürlich" wandeln, das heißt von selbst, ohne aktives Zutun, trifft das auf die Standardsprache nur zum Teil zu, etwa wenn sich in Zeitungen eine neue Formulierungsweise verbreitet. Zum anderen Teil ändert sich die Standardsprache durch gezielte Eingriffe, zum Beispiel durch Reformen wie die Rechtschreibreform von 1996 oder dadurch, dass in einer neuen Auflage der Duden-Grammatik eine bestimmte grammatische Konstruktion nicht mehr als "umgangssprachlich" gekennzeichnet wird und so in der Standardsprache "ankommt".

Nebenbei bemerkt hat das hat auch eine gewisse Relevanz für die Debatte um die gendergerechte Sprache, in der häufig argumentiert wird, gegenderte Formen seien deshalb ein Problem, weil sie nicht durch organischen Sprachwandel zustande gekommen seien, sondern einen Eingriff in die natürliche Sprachentwicklung darstellten (wie in diesem Artikel). Unabhängig davon, wie man zum Gendern sonst steht, muss man diesem Argument aus soziolinguistischer Sicht entgegnen, dass unsere Standardsprache, das Hochdeutsche, auch nicht – oder nur zu einem gewissen Teil – das Resultat von natürlichem Sprachwandel ist. Im Gegensatz zu den Dialekten ist der Standard gerade dadurch gekennzeichnet, dass er durch bewusste Eingriffe geschaffen und geformt worden ist.

In den vergangenen Jahrhunderten haben sich Grammatiker (darunter kaum -innen) und Sprachgelehrte mit dem Deutschen auseinandergesetzt und entschieden, was in die Standardsprache gehört und was nicht. Die doppelte Verneinung (wie in "Ich habe kein Geld nicht") haben sie zum Beispiel aussortiert, obwohl sie in vielen Dialekten und auch in anderen Sprachen wie zum Beispiel dem (Standard-)Italienischen vorkommt. Auf diese Weise haben sie den Grundstein dafür gelegt, was im Deutschen heute als richtig gilt und was als falsch. Das hat nur wenig mit natürlicher Sprachentwicklung zu tun und viel mit sprachlichen Ideologien, die zum Beispiel besagen, dass eine Sprache "logisch" sein müsse und sich zwei Negationen gegenseitig aufheben würden (was in der Mathematik stimmt, in der Sprache aber nur manchmal).

Gesprochener Standard, geschriebener Dialekt?

Eine völlige Trennung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit gibt es freilich nicht. Die geschriebene Standardsprache hat fraglos Einfluss auf den mündlichen Sprachgebrauch – auch deshalb, weil die Standardsprachenideologie nicht vor dem gesprochenen Wort haltmacht. Dieser Einfluss ist aber begrenzt gegenüber den "natürlichen" Sprachwandelprozessen, die sich innerhalb der gesprochenen Sprache abspielen. Und geschriebene Sprache ist durchaus nicht immer mit Standardsprache gleichzusetzen: Schon lange gibt es Autor:innen, die (auch) im Dialekt schreiben. Heute finden wir geschriebenen Dialekt unter anderem auf zahlreichen Wahlplakaten und in Werbebotschaften. Vor allem aber schreiben sich junge Menschen heute routiniert im Dialekt formulierte Textnachrichten (siehe Dialektschreiben ist im Alltag zur Selbstverständlichkeit geworden). Das Ausmaß dieser Entwicklung ist nur sehr schwer abzuschätzen, da sie zum großen Teil im Privaten abläuft. Einige befürchten, dass die jungen Schreiber:innen so das "richtige" Schreiben verlernen – dabei praktizieren diese eigentlich nur das, was im Gesprochenen schon lang zur sozialen Kompetenz gehört, nämlich sich flexibel und situationsadäquat auszudrücken. Und wer würde schon im Freundeskreis geschliffenes Standarddeutsch sprechen? (Simon Pickl, 8.5.2024)