Kinderbild von Marie und Karl Kraus, zu sehen in der Wienbibliothek im Rathaus. Der spätere
Kinderbild von Marie und Karl Kraus, zu sehen in der Wienbibliothek im Rathaus. Der spätere "Fackel"-Herausgeber war seiner jüngsten Schwester in inniger Liebe zugetan.
Wienbibliothek im Rathaus

Akutes Interesse an seiner Privatperson war Karl Kraus vor allem eines: peinlich. Jemand, der die gesamte Menschheit vor den Richterstuhl seiner Sprachempfindsamkeit zitiert, appelliert, doch er empfängt nicht, es sei denn, in den satirischen Amtsstunden.

Ein Satiriker bleibt selbst für ihm Nahestehende schwer verfügbar. Dabei war Kraus (1874–1936) in Wahrheit die warmherzigste Persönlichkeit, die sich denken lässt. Er, der alle Zuwendungen an andere ins Protokoll seiner Fackel eintrug, war mildtätig. Den Bedürftigsten gab Kraus, weil er dadurch die allgemeinste Form der Menschenliebe praktiziert sah.

Privat durfte man ihm deshalb nicht kommen. Sein Aphorismus gegen die Verstrickung in die eigene Herkunft muss schon im Jahr der Niederschrift 1909 legendär geklungen haben: "Das Wort 'Familienbande' hat einen Beigeschmack von Wahrheit." Kraus hat jedoch zu keinem Zeitpunkt Familienweglegung betrieben. Wie jetzt eine kleine Schau im Foyer der Wienbibliothek belegt, hat die vielköpfige Familie Kraus ihren Zweitjüngsten – Kraus hatte neun Geschwister – sehr wohl in einen Kokon der Fürsorglichkeit eingesponnen.

Und Kraus selbst spann eifrig mit. Die Eltern hatten sich, aus dem böhmischen Jičín kommend, im Wiener Großbürgertum etabliert. Vater Jacob machte in der Kaiserstadt mit Papiersäckchen ein Vermögen. Zum Segen der Verpackungsindustrie gesellte sich der Vertrieb von Ultramarin und Waschblau.

Ein schmächtiger Bub

Karl Kraus bezog eine Leibrente aus dem Familienunternehmen, erst durch sie wurde ihm die Existenz als Fackel-Herausgeber ermöglicht. Der Titel der von Kraus-Expertin Katharina Prager wunderbar konzentriert kuratierten Ausstellung enthält einen weiteren famosen Aphorismus: Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben – Die Familie des Satirikers Karl Kraus.

Auch wenn es bloß ein Eingriff gewesen sein sollte: Kraus, der doch sonst jede Stallwärme mied, ließ sich bereitwillig ergreifen. Als Bub war Kraus schmächtig. Mutter Ernestine muss ihn, den Jüngsten, als ihr Nesthäkchen behandelt haben.

1891 verschied sie an einem Luftröhrenkatarrh, Karl barg Haar von ihr, ein Blatt von ihrem Grab sowie ihren letzten Brief als Andenken, die Tinte auffällig verwischt. Auch hier die sorgfältige Sortierung, die Trennung der Sphären in solche von unterschiedlicher Betroffenheit: Das Kuvert trägt die Aufschrift "Familiensache".

Karl Kraus war als Satiriker blind und taub für alle Herzens- und Gemütsschlampereien. Entgegen der von ihm selbst verbreiteten Maximen besaß er jedoch einen eminenten Familiensinn.
Karl Kraus war als Satiriker blind und taub für alle Herzens- und Gemütsschlampereien. Entgegen den von ihm selbst verbreiteten Maximen besaß er jedoch einen eminenten Familiensinn.

Kraus blieb sein Leben lang Junggeselle. Was andere Gott oder einer Illusion weihen, widmete er der Sprache. Die mönchische Lebensart mochte bei Kraus der moralistischen gewichen sein. Mit den zahlreichen Brüdern, Schwestern, Neffen und Nichten unterhielt der Unerbittliche jedoch eine durchaus beträchtlich zu nennende Korrespondenz.

Tatsächlich verband ihn mit Marie oder Mizzi, verheiratete Turnowsky (1875–1933), die innigste Beziehung. Die jüngste Schwester unterhielt im Familienverband die Nachrichtendienststelle, über sie lief der größte Teil des Postverkehrs. Karl wurde von den Seinen "Muckerl" gerufen, als solcher zeichnete er auch Postkarten.

Keine Schlampereien

Die Schriftstücke der Ausstellung verdeutlichen mehrerlei: Kraus war ein unversöhnlicher Gegner von Herzensschlampereien. Zugleich blieb er, dem bürgerlichen "Sittlichkeitsplunder" sonst notorisch abhold, den Konventionen der Jahrhundertwendekultur vielfach verhaftet. Davon zeugen nicht bloß die misogynen Einträge, die den Gebrauchswert seiner Aphorismen häufig so sehr sinken lassen: "Persönlichkeit des Weibes ist die durch Unbewusstheit geadelte Wesenlosigkeit."

Noch etwas belegt Katharina Pragers Schau eindrucksvoll: Bewusstsein und Stolz kennzeichnen jüdische Familien, die es gewohnt waren (und sind), enormem Außendruck standzuhalten. Man blickte im Kreis der Familie voller Stolz auf die Fackel, ihren fast alleinigen Autor. Kraus wiederum ließ sich begierig über alle Denkwürdigkeiten, die die Eigenen betrafen, in Kenntnis setzen.

Gerade Kraus' Nichten lebten nach Maßgabe neuer Rollenbilder: hatten Affären mit anderen Frauen oder waren geschieden. Schwester Malvine, verheiratete Weingarten (1865–1955), engagierte sich nicht nur in der Frauenbewegung. Sie trat im US-Exil als Vorleserin von Karl-Kraus-Schriften in Erscheinung.

Es waren die Nationalsozialisten, die eine Vielzahl der Mitglieder der Familie Kraus in ihren Vernichtungslagern auslöschten. Was ist schon der Eingriff der Familie in das private Leben – gegen die Übermacht jener, deren Vorboten Karl Kraus an ihrer Sprache erkannte. Am Sonntag kehrt das Datum von Kraus' Geburtstag zum 150. Mal wieder. (Ronald Pohl, 26.4.2024)