An Kraftausdrücken wird in Moskaus Propagandastuben seit jeher nicht gespart. In Kiew seien Faschisten an der Macht, hieß es zu Beginn der Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022. Dabei weist Wladimir Putins Regime spätestens seit Kriegsbeginn selbst faschistische Züge auf, wie Marlène Laruelle konstatiert. Die französische Historikerin forscht an der George Washington University in der US-Hauptstadt sowie am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen.

Am Sonntag wird sie im Rahmen der Burgtheater-Matinee in Wien gemeinsam mit dem britischen Ex-USA-Botschafter Kim Darroch, dem Politikberater Mark Medish sowie der österreichischen Diplomatin Eva Nowotny über die bevorstehende Wahl in den USA und deren globale Auswirkungen sprechen. DER STANDARD hat sie vorher zum Interview gebeten. Auch in den Reihen der Trumpisten, sagt sie dort, finden sich faschistische Tendenzen.

Donald Trump (li.) und Wladimir Putin bei ihrem – für Trump letztlich erfolglosen – Treffen in Helsinki im Juni 2018.
REUTERS/Kevin Lamarque

STANDARD: 2021 haben Sie in Ihrem Buch die Frage durchdekliniert, ob der Begriff "Faschismus" auf Russland unter Wladimir Putin zutrifft. Der Westen mache es sich damit zu einfach, lautete Ihre Analyse. Ein Jahr später erklärte Putin angeblichen "Neonazis" in der Ukraine den Krieg. Hat sich Ihre Einschätzung seither geändert?

Laruelle: Natürlich hat der Krieg stark am internen Gleichgewicht der Kräfte im russischen Regime gerüttelt. Es gibt dort Gruppen, vor allem aus dem Geheimdienst- und Sicherheitsbereich, deren Ansichten und Ziele heute näher am Faschismus sind als früher. Diese Leute wollen die Bevölkerung total für den Krieg mobilisieren und finden, dass die Nation durch Krieg neu belebt werden müsse, was einer Definition des Faschismusbegriffs entspricht. Seit dem Krieg sind auch die Militärblogger-Szene und eine paramilitärische Kultur explodiert, die diese Meinung teilen. Es gibt aber auch einen großen Teil in der Regierung, der technokratisch denkt, auch Leute im Umfeld Putins. Diese haben mit Faschismus weniger zu tun als mit einem klassischen, konservativen Autoritarismus. Für sie ist der Krieg eine "militärische Spezialoperation", neben der die Bevölkerung weitgehend normal leben kann. Zwischen diesen beiden Strategien gibt es Spannungen.

STANDARD: Wo verorten Sie Putin selbst?

Laruelle: Auf der technokratischen Seite. Putin hat generell immer die Rolle eines Zentristen innerhalb seines Systems eingenommen, der die beiden Seiten gegeneinander ausspielt. Manchmal bedient er sich zwar eines parafaschistischen Diskurses, etwa wenn er von der Reinigung der Nation von Verrätern spricht, bisher schreckt er aber etwa vor einer vollen Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg zurück.

STANDARD: Im New Yorker wurde vor wenigen Wochen wieder einmal darüber diskutiert, ob US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump ein "Faschist" sei oder nicht. Was würden Sie sagen?

Laruelle: Da müssen wir zuerst überlegen, ob wir Trump als Person meinen oder sein Umfeld, seine Ideologie oder seine Wählerinnen und Wähler. In seinem Umfeld, also unter jenen Menschen, die einen Wahlerfolg Trumps in trumpistische Politik umsetzen wollen, gibt es einige, die der Definition von Faschismus entsprechen. Bei Trump selbst ist es schwer zu sagen, weil nicht klar ist, welche seiner Handlungen Ideologie und welche Opportunismus sind. Die meisten sind aber eher pragmatisch, sie basieren etwa nicht auf einer erneuerten Nation oder einer Utopie von einem neuen Menschen, was der klassischen Definition von Faschismus entsprechen würde. Was seine Wählerschaft betrifft, wäre die Antwort ein klares Nein, dazu speist sie sich aus viel zu vielen Hintergründen und politischen Ansichten.

STANDARD: Gefühlt wird im Moment jeden zweiten Tag russische oder andere Spionage im Westen aufgedeckt. Haben Sie das erwartet vor den kommenden Europawahlen?

Laruelle: Da spielen zwei Faktoren hinein. Es gibt tatsächlich rund um die Wahlen eine verstärkte russische Spionageaktivität, weil klar ist, dass diese Wahlen ein sehr wichtiger Wendepunkt für die EU sind. Da werden Parteien gefördert, die nun nicht unbedingt prorussisch sind, aber jedenfalls EU-skeptisch und nicht proukrainisch. Andererseits sind die Dienste im Westen aber jetzt auch ganz einfach aufmerksamer.

STANDARD: Was würde sich für die Ukraine ändern, sollte tatsächlich Trump die US-Wahl gewinnen?

Laruelle: Auch wenn sich in Trumps Umfeld Leute finden, die prorussische Statements abgegeben haben, ist die Mehrheit des republikanischen Establishments im Kongress nicht prorussisch. Sie sind auch nicht unbedingt proukrainisch, weil es sich bei ihnen um Isolationisten handelt. Was passieren könnte, ist, dass diese Leute die Hilfe für die Ukraine einstellen und den Europäern sagen, dass das nun deren Sache sei. Eine zweite Ebene könnte sein, dass Trump versucht, mit Putin einen Waffenstillstand auszuhandeln. Er könnte Kiew dann sagen, entweder unterschreiben sie, oder die USA stellten ihre Hilfe ein. Das wäre dann sehr schwierig für die Ukraine, weil sie sich wahrscheinlich weigern müsste. Dann bestünde das Risiko, dass sich Europa noch mehr spaltet, weil sich einige Länder womöglich den USA anschließen würden, andere aber weiter die Ukraine unterstützen.

Die typischen russischen Holzpuppen präsentieren an diesem Verkaufsstand in Moskau ein buntes Panoptikum der autoritären Herrscher.
EPA/ANATOLY MALTSEV

STANDARD: Trump hat unlängst gemeint, er wäre an seinem ersten Amtstag gerne ein Diktator. Was steht den USA bevor?

Laruelle: Man muss ernst nehmen, was Trump sagt. Wenn er die Wahl verliert, droht ein Aufstand der Trump-Unterstützer, wenn er gewinnt, droht eine Art institutioneller Coup. Beide Varianten sind riskant. Die Leute in seinem Umfeld, die eine zweite Amtszeit vorbereiten, planen explizit, die Finanzierung vieler staatlicher Behörden einzustellen und viele politisch ernannte Beamte zu feuern. Diese Leute wollen die Bundesbehörden säubern, weit über das hinaus, was üblicherweise bei politischen Machtwechseln in den USA passiert. Es könnte also wirklich eine autoritäre Wende eintreten.

Trump in New York
Donald Trump in kämpferischer Pose – auf dem Weg zu einem Gerichtsprozess.
via REUTERS/Curtis Means

STANDARD: Die erste Amtszeit Trumps erschien über weite Strecken ziemlich chaotisch, auch personell. Könnte es diesmal anders sein?

Laruelle: 2016 ist Trump als Anti-Establishment-Kandidat angetreten und war dann überrascht, einerseits von seinem eigenen Wahlsieg, andererseits von der Widerstandskraft der Institutionen. Heute sind er und seine Leute viel strukturierter und haben eine echte, autoritäre Strategie entwickelt, den Trumpismus. Ein Teil davon ist faschistisch, jedenfalls aber autoritär und antidemokratisch. Der Abbau jener Institutionen, die Trump damals gebremst haben, gehört da zentral dazu. Wir beobachten die Verwandlung eines populistischen Erfolgs in eine kohärente Doktrin. Die Unterlagen zu "Project 2025" (Planungsstelle zur Regierungsübernahme Trumps, Anm.) sind mittlerweile 900 Seiten dick, auch wenn man dann nicht alles wird umsetzen können, zeigt uns aber schon der schiere Umfang, wie groß man dort plant. (Florian Niederndorfer, 25.4.2024)