Die Hinweise verdichten sich, dass Russland im Frühling oder im Sommer einen neuen Anlauf unternimmt, weitere Gebiete der Ukraine zu erobern. Eine neue Offensive würde Machthaber Wladimir Putin aber zu einer heiklen Gratwanderung zwingen: Um genügend Truppen aufbieten zu können, müsste er eine neue, unpopuläre Mobilmachung anordnen – die dann womöglich auch Moskauer und St. Petersburger trifft.

Die deutsche Russland-Expertin Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, warum sich das Regime damit so schwertut. Am Dienstagabend spricht sie im Renner-Institut in Wien, dem STANDARD gab sie vorher ein Interview.

STANDARD: Nun ist das US-Hilfspaket für die Ukraine zwar beschlossen, trotzdem fehlt es dem Land im Krieg gegen Russland weiter an Soldaten. Warum scheint der Angreifer im Gegensatz dazu noch immer aus dem Vollen schöpfen zu können?

Klein: Die Verluste der regulären Streitkräfte und der nichtregulären Kämpfer sind enorm in Russland. Verifizierte Zahlen von BBC und Mediazona (russisches Oppositionsportal, Anm.) sprechen von etwa 45.000 Toten. Um das auszugleichen, musste man im September 2022 auf die Teilmobilmachung zurückgreifen, was aber sehr unpopulär war. Seitdem versucht Moskau mit der sogenannten verdeckten Mobilisierung so viele Personen wie möglich an die Front zu schicken, etwa die sogenannten Vertragssoldaten, die sich für ein oder mehrere Jahre verpflichten, oder die sogenannten Freiwilligen von privaten Militärfirmen, regionalen Freiwilligenformationen bis hin zu Kosakenverbänden. Wenn Russland aber wirklich in eine neue Großoffensive gehen will, wird es um eine neue Teil- oder sogar Generalmobilmachung aber nicht herumkommen.

Russische Soldaten
Russische Truppen bringen einen Flammenwerfer in Position.
AP

STANDARD: Davor schreckt Wladimir Putin bisher aber zurück. Warum?

Klein: Schon die Teilmobilmachung hat dazu geführt, dass die Zustimmung zum Präsidenten und zu der sogenannten Spezialoperation gesunken ist – und zudem zur Flucht vieler gut ausgebildeter Männer. Eine neue Mobilmachung würde bedeuten, dass man auch in Städten wie Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg oder Wladiwostok einziehen muss, wo es eine andere Sozialstruktur gibt als in den armen Gebieten, die bisher die meisten Soldaten gestellt haben. Putin hat ja im März 2022 das Versprechen gegeben, dass es keine Mobilmachung geben wird. Das hat er schon einmal gebrochen. Die Vorbereitungen laufen aber bereits, man hat etwa die Erfassungssysteme verändert, es ist jetzt einfacher, Menschen einzuziehen. Auch das Narrativ hat sich verändert, es wird jetzt schon seit längerem davon gesprochen, dass Russland im Krieg sei, nämlich im Krieg mit dem Westen.

STANDARD: Gab oder gibt es Proteste in den Regionen, in denen bisher schon stark rekrutiert wurde?

Klein: Es gab regionale Proteste nach der Teilmobilmachung im Herbst 2022, etwa in Burjatien und Dagestan. Diese Proteste sind aber brutal niedergeprügelt worden. Die neuen Proteste erheben in Telegram ihre Stimme, wenn aber jemand etwa am Grab des unbekannten Soldaten Blumen niederlegt, wird das sofort unterdrückt. Man darf sich auch keine großen, organisierten Proteste vorstellen, dazu ist das System viel zu repressiv.

STANDARD: Will Russland eigentlich noch immer die gesamte Ukraine kontrollieren, wie es anfangs sein Ziel war?

Klein: Die Maximalziele Russlands sind gleich geblieben, nämlich die sogenannte Entnazifizierung und Demilitarisierung. Es geht aber weniger darum, die gesamte Ukraine militärisch zu besetzen, sondern um politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Kontrolle. Weil diese Ziele eben nicht aufgegeben werden, kann durch ein Einfrieren des Konflikts vielleicht ein kurzzeitiger Waffenstillstand entstehen, aber dieser Zustand wird fragil bleiben. Russland würde das vermutlich nutzen, um später mit neuen Kräften wieder anzugreifen, weil sich an seinen Zielen nichts geändert hat.

Plakat in Moskau
"Wir bringen Frieden", heißt eine Ausstellung von Propagandaplakaten in der Moskauer Innenstadt.
EPA/YURI KOCHETKOV

STANDARD: Was würde sich ändern, wenn Putin stirbt?

Klein: In Russland kommt es nicht auf die formalen Institutionen wie Parlament, Regierung oder Parteien an, sondern auf die Elitengruppierungen an der Spitze. Hier sehen wir, dass vor allem die Gruppen aus dem Geheimdienst und dem Militär stark sind, aus denen ja auch Putin selbst kommt. Es ist wahrscheinlich, dass nach Putin ein ähnlicher Mensch mit ähnlichen Prägungen an die Macht kommen würde. Man kann sich vielleicht taktische Veränderungen vorstellen, etwa in der Außenpolitik in manchen Bereichen, aber an den grundlegenden Zielen würde sich nichts ändern.

STANDARD: Wie fest sitzt Putin denn im Sattel?

Klein: Autoritäre Systeme sind so lange stabil, wie sie stabil sind. Das haben wir etwa in Tunesien gesehen, wo die Selbstverbrennung (eines Gemüsehändlers, Anm.) zu einem Flächenbrand geführt hat. Nach den bisherigen Parametern sitzt Putin in Russland aber relativ fest im Sattel. Woher sollte die Gefahr auch kommen? Die politische Opposition ist entweder im Gefängnis, im Exil oder tot. Sozialproteste gibt es zwar vereinzelt, sie konnten sich aber bisher nie zu einer größeren Protestwelle zusammenschließen. Die größte Gefahr für Putin wären Elitenkonflikte, die außer Kontrolle geraten und bei denen man am Ende zu der Ansicht kommt, dass Putin nicht mehr die ideale Figur an der Spitze ist. Das ist von außen aber nur sehr schwer zu sehen, weil diese Eliten natürlich sehr intransparent sind und Konflikte erst zu erkennen sind, wenn sie offen sind, so wie damals bei Jewgeni Prigoschin.

STANDARD: Wird in Russland über den Ende August 2023 bei einem Flugzeugabsturz getöteten Wagner-Söldner-Chef heute noch gesprochen?

Klein: Wir wissen nicht, wie viele seiner Söldner sich so wie vereinbart den regulären Streitkräften angeschlossen haben. Ein Teil von ihnen dürfte noch in Belarus sein, ein anderer ist in der Sahelzone in Afrika aktiv. Klar ist aber, dass das Modell von Wagner, also ein reicher Mann, der über ein breites Portfolio an Gewaltunternehmen sowie politische Ambitionen verfügt, so nicht mehr geht in Russland. Es gibt zwar weiter private Militärfirmen, aber die sind alle viel enger mit dem Verteidigungsministerium oder der Nationalgarde verwoben. Die Figur Prigoschin war meiner Meinung nach immer ein wenig überschätzt, er war nie Teil der Elite. Seine Meuterei war ein Versuch, dorthin aufzusteigen. (Florian Niederndorfer, 23.4.2024)