Das Wachstumspotenzial für Lebensmittelautomaten hat Christoph Mayer überschätzt. Am Wert regionaler Einkäufe zweifelt der Kastlgreißler-Chef keine Sekunde. Mit Supermärkten geht er hart ins Gericht.

Christoph Mayer: "Bist du in Österreich als Unternehmer erfolglos, bist du ein Pleitier. Bist du erfolgreich, bist du der böse Kapitalist."
Regine Hendrich

STANDARD: Wo erledigen Sie mit Ihrer Familie die Wocheneinkäufe?

Mayer: Wir leben im Waldviertel, ein naher Bauernladen ist eine Säule unseres Einkaufs. Eier legen unsere eigenen Hühner. Milch und Gemüse kommen von Nachbarn. Wir kaufen sehr regional. Auch weil es mir Freude bereitet, die Leute zu kennen, die Lebensmittel produzieren.

STANDARD: Regionaler Einkauf kostet Zeit und Geld. Beides fehlt vielen Haushalten.

Mayer: Nicht jeder lebt neben Bauern. Die Österreicher geben aber pro Kopf im Schnitt monatlich 177 Euro für Lebensmittel ohne Alkohol und Außer-Haus-Konsumation aus. Meine Frau und ich liegen mit unserem Fünf-Personen-Haushalt genau im Schnitt. Der Trick ist, viel selbst zu kochen. Wir kaufen keine Fertiggerichte oder Softdrinks. Und das ist es, was ich mir von unserem Kanzler gewünscht hätte: dass er bei billigem Essen nicht von McDonald's redet. Mit Erdäpfeln, Biobutter und Salat aus der Region gäbe es dieses gesund, ausgiebig und klimaschonend um zwei Euro pro Person.

STANDARD: Lässt sich über Konsum die Welt verändern?

Mayer: Ja. Ich bin ein unverbesserlicher Optimist, was die Freiheit der Menschen anbelangt. Wir müssen Menschen aufklären, bilden und Information transparent machen. Jeder Griff ins Lebensmittelregal ist eine politische Entscheidung.

STANDARD: Damit machen Sie es der Politik leicht, die sich nur zu gern auf die Macht der Konsumenten ausredet.

Mayer: Die Politik müsste sich weniger von Unternehmern und Lobbyisten einflüstern lassen. Und sie müsste in die Ausbildung mündiger Bürger investieren. Die Diskussion, warum es Glyphosat oder Backenzyme braucht, sollten nicht NGOs mit Politikern führen, sondern wir Konsumenten mit Produzenten.

STANDARD: Sie arbeiteten einst in der Autoindustrie und für Boston Consulting. Heute pressen Sie Apfelsaft und verkaufen regionale Lebensmittel. Ein Luxus, den Sie sich leisten?

Mayer: Unzweifelhaft würde es mir rein monetär auf früheren Karrierewegen besser gehen. Würde ich tauschen wollen? Keine Sekunde.

STANDARD: Ihre Kastlgreißler wollen One-Stop-Shops für bäuerliche Spezialitäten sein, ergänzt um Ware des täglichen Bedarfs. Wie viele Kunden kaufen in den Selbstbedienungsboxen ein?

Mayer: Im Schnitt sind es täglich 50.

Der Kastlgreißler betreibt mit neun Franchisepartnern 20 Standorte in Österreich. Vier weitere sind fix.
KastlGreissler

STANDARD: In Zeiten von Corona erlebte regionaler Einkauf einen Boom. Seit der starken Teuerung geht Nahversorgern die Luft aus. Vom vergessenen Packerl Milch für den Kaffee können kleine Kaufleute nicht leben.

Mayer: Der Trend zu Regionalität ist gekommen, um zu bleiben. Wir kalkulieren mit 80.000 Euro an Umsatz im Jahr, um profitabel zu sein. Unsere Personalkosten sind keine Treiber der Öffnungszeiten. Und wir haben deutlich geringere Energiekosten als personalbetriebene Geschäfte, die Jahresumsätze von 500.000 Euro brauchen, um die Nasenlöcher über Wasser zu halten – Umsatz, der an Diskonter verlorenging. Und da sie schon vorher nicht aus dem Vollen schöpften, haut sie das zusammen.

STANDARD: Viele Lebensmittel lassen nur magere Spannen zu. Konsumenten sind preissensibler denn je. Ist Nahversorgung ein Groscherlgeschäft?

Mayer: Ist es. Wir haben keine Marge, wo ich locker 50-Prozent-Rabatte gebe, aber man kann davon leben.

STANDARD: Sie wollten bis 2024 gut 100 Kastlgreißler in Österreich eröffnen. Geworden sind es gerade einmal 20. Mitbewerber sperrten zu, detto die Billa-Regionalboxen. Waren Sie zu idealistisch?

Mayer: Wir haben das Wachstumspotenzial überschätzt. 2022 gab ein kleines Geschäft nach dem anderen auf. Kaufleute dafür zu begeistern, sich selbstständig zu machen, war schwer. Das ist jetzt anders. Wir haben heuer vier Shops eröffnet, vier weitere sind fix. Der Markt braucht uns. Bürgermeister wollen Nahversorger zurück in die Dörfer holen.

STANDARD: Doch Regionalität ist kein Qualitätskriterium. Sie sagt weder etwas über die Art der Tierhaltung noch über den Einsatz von Pestiziden aus.

Mayer: Für mich ist radikale Transparenz das neue Bio – auch wenn mich die Biobranche dafür prügelt. Ich bin Biofan. Lieber aber ist mir, wenn ich jene, die für mich produzieren, kenne. Emotional werde ich bei Biohonig aus Nicht-EU-Ländern. Es ist ein Armutszeugnis der Landwirtschaft, ihn einem konventionellen Honig aus dem nächsten Dorf vorzuziehen. Was macht die Bauern wütend? In erster Linie fehlende Wertschätzung. Wir anonymisieren Lebensmittel, radieren Bauern darauf aus und picken ihnen Siegel drauf. Ihr einziger Kontakt ist der Zentraleinkäufer einer Supermarktkette. Das ist ihre Lebensrealität.

STANDARD: Supermärkte betonen stets ihre Liebe zu kleinen Lieferanten.

Mayer: Von 500 Meter Regalfläche sind vielleicht eineinhalb Meter regional. Das ist ein Witz.

Christoph Mayer: "Wir anonymisieren Lebensmittel, radieren Bauern darauf aus und picken ihnen Siegel drauf."
Regine Hendrich

STANDARD: Sie wollen Konzernen Marktanteile abnehmen. Beschneiden Sie nicht vielmehr das Geschäft der Ab-Hof-Läden und kleiner bestehender Kaufleute?

Mayer: Wir eröffnen nicht in unmittelbarer Nähe eines funktionierenden Dorfgreißlers. Es gibt ohnehin genug weiße Flecken. Und viele Bauern setzen, seit sie uns beliefern, auch in ihren eigenen Läden mehr um.

STANDARD: Nahversorger wollen soziale Treffpunkte sein. Auch Ihre? Mit Automaten lässt es sich halt schlecht reden.

Mayer: Ein Tisch davor, zwei Sessel, und es wird auch bei uns getratscht. Wir sind Pionierpflanzen für weitere Treffpunkte, Schmieröl für dörfliche Entwicklung. Gasthäuser etwa verkaufen über uns Fertiggerichte. Und statt Boni gibt es bei uns für Einkäufe Gutscheine für einen Kaffee beim Wirt ums Eck.

STANDARD: Das Höchstgericht hat Selbstbedienungsboxen Rund-um-die-Uhr-Öffnung verboten. Ein schwerer Schlag für Ihre Branche. Wie würden Sie das Automatengesetz auslegen?

Mayer: Nicht engstmöglich. Es gibt ja nicht mehr nur Kaugummiautomaten. Selbstbedienung gehört gesetzlich behandelt wie Automaten. Warum erklären wir Unternehmern und Arbeitnehmern andauernd, wie sie leben sollen? Ich will die völlige Liberalisierung der Ladenöffnung. Jeder soll aufsperren, wann er will.

STANDARD: Wann wollen Sie?

Mayer: Montags bis sonntags von fünf bis 22 Uhr. Es ist wie mit der Redefreiheit: Es ist wichtig, alles sagen zu dürfen, auch wenn man es dann letztlich nicht tut.

STANDARD: Der freie Sonntag in weiten Teilen des Handels soll fallen?

Mayer: Für den Sonntag soll der Gesetzgeber Arbeitsstunden mit hohen Zuschlägen versehen.

STANDARD: Führt das nicht zu Wettbewerbsverzerrung zugunsten weniger großer Konzerne, die sich teure Zuschläge fürs Personal leisten können?

Mayer: 95 Prozent des Marktes konzentrieren sich auf fünf Lebensmittelhändler. Was bitte soll denn hier noch schlimmer werden?

STANDARD: Freiwillige Sonntagsarbeit wäre im Einzelhandel Illusion.

Mayer: Natürlich muss man sich die Auswirkungen auf gesellschaftlich schwächere Gruppen ansehen. Aber derzeit schützen wir keine Arbeitnehmerinnen, sondern handfeste Geschäftsinteressen von Rewe und Spar, die Ausnahmen im Gesetz ausnutzen. Rewe will keine Sonntagsöffnung. Sie hat ja Shops an Tankstellen – fast so viele wie normale Filialen. Da zu sagen, der Sonntag sei heilig und gehöre der Familie, finde ich heuchlerisch. Kleine Kaufleute haben Hybridsysteme ohne Personal. Sie könnten damit gut sonntags offen halten.

Mindestens die Hälfte der Lebensmittel eines Kastlgreißlers stammt von regionalen Produzenten aus einem Umkreis von 40 Kilometern.
KastlGreissler

STANDARD: Apropos Selbstbedienung: Wie gehen Sie mit Diebstählen um? Händler berichten hier von einem Schwund von zehn bis 15 Prozent des Umsatzes, teilweise sogar mehr.

Mayer: Lästig ist der Aufwand der Aufklärung. Wirtschaftlich gesehen haben wir quer über alle Standorte einen Schwund von unter eineinhalb Prozent, weniger als Supermärkte. Die Kombination aus Vertrauen und Videokameras ist nicht schlecht. Außer eine Gruppe von Jugendlichen beschließt, beim Kastlgreißler als Mutprobe ein Red Bull zu stehlen.

STANDARD: Alkohol dürfen Ihre Läden nicht führen. Unnötige Schikane?

Mayer: Unser Super-GAU wäre die Schlagzeile: Komasaufen beim Kastlgreißler. Angesichts dieses Extremfalls ist die Regelung berechtigt. Im Übrigen ist Bier ein mühsames Geschäft. Wir boten es einmal zum Selbstkostenpreis. Wissen Sie, worüber sich die Leute aufgeregt haben? Dass es die Kiste beim nächsten Lidl um 50 Cent billiger gab.

STANDARD: Ihre Franchisegebühren bemessen sich anhand des Umsatzes. Wann werden Sie mit dem Kastlgreißler Gewinne erzielen?

Mayer: Er hat heuer gute Chancen auf eine schwarze Null. Ich bin kein Idealist, der Dividenden böse nennt. Der Kastlgreißler ist aber nicht darauf ausgelegt, in den nächsten Jahren die Aktionäre, sprich mich, glücklich zu machen. Dafür ist mir die Sache zu wichtig.

STANDARD: Können Ihre Franchisenehmer davon im Vollerwerb leben?

Mayer: Unser ältester Franchisenehmer eröffnet gerade seinen achten Markt. Und wir haben Standorte mit 250.000 Euro Jahresumsatz netto. Da ist man gut mit dabei.

STANDARD: Warum verlangen Sie von Lieferanten keine Listungs- und Marketinggebühren?

Mayer: Wir hatten den ersten Shop noch nicht eröffnet, da bot uns eine große Marke für exklusive Listung einen Kickback an. Damals entschied ich: Wir werden nicht am Einkauf unserer Kaufleute verdienen. Es wäre unehrlich, und ich will, dass sie regional einkaufen.

STANDARD: In Deutschland expandieren Sie unter der Marke Kistenkrämer. Tickt der deutsche Markt ähnlich wie der österreichische?

Mayer: Im katholischen Bayern etwa könnten wir 24/7 offenhalten. Aber Deutschland ist nicht homogen. Der Unterschied zwischen Schwaben und Sachsen ist meiner Erfahrung nach mindestens so groß wie zwischen Österreichern und Rheinländern. Viel geringer ist in Deutschland die Dichte an Lebensmittelhändlern. In 5000-Einwohner-Städten gibt es oft kein einziges Geschäft. Es braucht dort daher mehr Lösungen für die regionale Nahversorgung.

Christoph Mayer: "Unzweifelhaft würde es mir rein monetär auf früheren Karrierewegen besser gehen. Würde ich tauschen wollen? Keine Sekunde."
Regine Hendrich

STANDARD: Finanziert wurde der Kastlgreißler nicht zuletzt über Crowdfunding. Neben Ihrer Familie als Mehrheitseigentümerin hat sich Unternehmerin Hilde Umdasch daran beteiligt.

Mayer: Crowdfunding war wichtig für den Start. Noch einmal würde ich es, denke ich, nicht machen. Wir sind schlank aufgestellt, und solange nichts Unvorhergesehenes passiert, brauchen wir kein externes Geld. Hilde Umdasch gefällt unser Geschäftsmodell. Sie hat ein Herz für Handel.

STANDARD: Sie selbst wollten einst Baumeister werden, haben die Baufirma Ihres Vaters aber in jungen Jahren verkauft, um sich später erneut selbstständig zu machen. Wie kam das?

Mayer: Unternehmertum hat man oder hat man nicht. Es ist für mich die Gestaltung von Umständen anstelle des Leidens darunter. Das gilt auch für jene, die sich beim Roten Kreuz oder bei der Feuerwehr engagieren. Ich bin ein schlechtes Opfer. Ich genieße es, das zu tun, von dem ich überzeugt bin, dass es richtig ist. Und ich kann mir die Menschen aussuchen, mit denen ich arbeite.

STANDARD: Sie berieten viele Start-ups. Wie schwer macht es Österreich Unternehmensgründern?

Mayer: Bist du erfolglos, bist du ein Pleitier. Bist du erfolgreich, bist du der böse Kapitalist. Dazwischen gibt es nicht rasend viel. Aber wer langfristig denkende Menschen will, muss die Idee leben lassen, etwas für künftige Generationen aufzubauen. Neiddebatten über Erbschaftssteuern sind der falsche Weg. Was uns am meisten fehlt, sind Mut zu Risiko und Freude mit jenen, denen was gelingt. (Verena Kainrath, 21.4.2024)