Marathon, Vienna
Anfeuerin Sabine Jaroschka hat eine Rassel dabei, um die vom Klatschen schmerzenden Hände zu schonen.
© Christian Fischer

"Geht schon, Hannes!", wird Sabine Jaroschka wohl auch diesen Sonntag beim Wien-Marathon wieder rufen. Und "Fast geschafft, Martina!" oder "Weiter so, Karin!". Hannes, Martina, Karin und all die anderen, die sie mit ihren Rufen motivieren wird, kennt Sabine Jaroschka gar nicht persönlich, aber ihre Namen stehen auf den Startnummern. Sie ist so etwas wie eine Profi-Jublerin am Streckenrand, die beim Anfeuern ihre regenbogenfarbene Rassel wie wild schwingt. Jaroschka ist selbst Läuferin: "Daher weiß ich, wie wichtig die Menschen an der Strecke sind." Und dass es einen Unterschied macht, wenn auch zu fortgeschrittener Stunde noch jemand am Streckenrand steht und einem ganz kurz das Gefühl gibt, eine Gewinnerin zu sein.

Im Brotberuf ist Jaroschka Werbetexterin. "Aber wenn ein Anfeuern ein Beruf wäre, das würde ich machen wollen." Man glaubt es der schwungvollen 52-Jährigen mit Sonnenbrille, Kurzhaarschnitt und sportlichem Käppi. Darum wird sie auch heuer wieder irgendwo nach Kilometer 39 am Rand der Strecke ihren Klappsessel aufstellen, Regenschirm, Getränke und Snacks für sich selbst sowie Pflaster für die Sportler in Griffweite haben und eine Lautsprecherbox mit Musik aufstellen.

Dadurch wird die bei vielen jetzt lauter werdende Stimme im Kopf, die immer eindringlicher sagt, dass man ja eigentlich auch aufgeben könnte, zumindest kurz von Freddie Mercury in Dauerschleife übertönt: "Don’t stop me now, I’m having such a good time", singt er. Und auch wenn zu diesem Zeitpunkt nicht mehr alle eine gute Zeit haben, beginnen einige doch wieder zu laufen. Manche würden mitsingen, bei manchen gingen sich sogar noch ein paar Tanzschritte aus, wieder andere würden einfach nur "Danke" sagen: "Mich rührt das immer zu Tränen", sagt Jaroschka.

Die Hände tun weh

Eva Tomeczek ist eine Veteranin der Wiener Marathon-Jubler: Sie steht seit 40 Jahren an der Strecke, um ihren Mann Gerhard Tomeczek, der bisher bei jedem Wien-Marathon am Start war, zuzujubeln – nur einmal musste sie, eine Woche nach der Geburt ihrer Tochter, passen. Tomeczek weiß nach all den Jahren ganz genau, wo sie ihren Mann am besten abpassen kann – beim Start, beim Naschmarkt, an der Mariahilfer Straße und im Prater, wo es für viele besonders hart wird. Hier musste die Familie auch schon einmal die ganz schweren Geschütze auffahren und Gerhard Tomeczek mit dem Rocky-Soundtrack vom Handy beschallen, um ihn zum Weiterlaufen zu bewegen. Mit Erfolg, natürlich. Was nur Profi-Jublerinnen wissen: Die Hände tun einem irgendwann vom vielen Klatschen weh. Übergroße Klatschhände, mit denen man ordentlich Lärm machen kann, gehören bei den Tomeczeks daher zur Standardausrüstung.

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Auch Proviant, Erste-Hilfe-Set und Klappsessel gehören zur Ausrüstung echter Anfeurer.
© Christian Fischer

Auf Lärm hat sich auch Lorenzo Gangi spezialisiert. Er ist mit seiner Samba-Band Batala seit 13 Jahren offiziell an der Strecke vertreten und sorgt selbst bei Starkregen für brasilianische Rhythmen im grauen Wien. "Wir sind nicht für die Schnellen da", sagt der Musiker. Vielmehr möchte er jene motivieren, die sich schwertun und ans Aufhören denken. Das funktioniere: "Manche beginnen bei unserer Musik wieder mit dem Laufen", sagt Gangi.

Das liege an den Beats – es sind 120 bis 15o pro Minute –, mit denen die Menschen wieder in ihren Laufrhythmus finden, vor allem aber an der Vibration der Trommeln, die man schon von weitem spürt. Heuer ist seine Band an zwei Standorten vertreten, um die Teilnehmer bis zum Ziel zu begleiten. 20 Trommlerinnen und Trommler werden sich beim pausenlosen Spielen abwechseln – das Ganze sei nämlich natürlich auch körperlich anstrengend. Die Menschen auf der Strecke wüssten das auch zu schätzen: "Wir feuern die Leute an, und sie feuern uns an."

Dass die Stimmung an der Strecke einen großen Unterschied macht, weiß auch das Organisationsteam des Vienna City Marathon. Daher gibt es entlang der Strecke unzählige Musikeinlagen und Showacts – neu ist heuer etwa eine "Embrace Diversity"-Anfeuerungsstelle an der Linken Wienzeile.

"Die Stadt bebt am Marathontag", sagt der Sportpsychologe Georg Hafner. Und diese Energie übertrage sich auch auf die Läuferinnen und Läufer. Aus sportpsychologischer Sicht könne man beim Anfeuern nicht viel falsch machen. Wobei: "Wenn man bei Kilometer drei jemandem 'Fast geschafft' zuschreit, ist das natürlich eine Farce." Letztendlich gehe es aber immer um die positive Intention. "Auch das banalste 'hopp, hopp, hopp' ist ein Rhythmus, den man sich mitnehmen kann." Und dass man in Wien die Menschen sogar mit ihrem Namen ansprechen kann – der Startnummer sei Dank – mache das Anfeuern noch einmal persönlicher.

Doch Übung macht die Meisterin. Jaroschka weiß mittlerweile genau, was sie zu den Läuferinnen und Läufern, die an ihr vorbeilaufen, sagen kann – und was nicht. "Manche kann man schon ein bisschen häkerln und bei ihrem Stolz packen und sagen: Du hast dir das selber ausgesucht, also geht schon."

Wir alle sind Gewinner

Das Beste am Schreien, Jubeln und Schwenken von Fahnen und Postern: Es macht beide Seiten glücklich. Das liegt an den Spiegelneuronen, erklärt Hafner, weshalb man sich beim Marathon als Teil des großen Ganzen fühlt – und irgendwie auch als Gewinnerin, selbst wenn man dabei auf einem Klappstuhl sitzt. "Wenn man sich auf das Anfeuern einlässt, ist das tatsächlich ein Stimmungsaufheller", sagt Hafner.

Das bestätigen auch jene, die jedes Jahr an der Strecke stehen. "Das Zuschauen ist wahnsinnig anstrengend, weil man sich so konzentrieren muss", sagt Eva Tomeczek. "Aber man wird total mitgerissen." Wenn dann die allerletzten Läuferinnen und Läufer und das Besenwagerl vorbeigezogen sind, klappt Sabine Jaroschka ihren Sessel zusammen und stoppt Freddie Mercury dann doch. Nächstes Jahr wieder. (Franziska Zoidl, 20.4.2024)