Bürgermeister Michael Ludwig im Interview
Laut Bürgermeister Michael Ludwig wird in Wien aktuell geprüft, rechtliche Möglichkeiten für eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge zu schaffen. Diese müssten dann temporär in jenen Bundesländern bleiben, in denen auch das Asylverfahren durchgeführt wurde.
Heribert Corn

Hohe Zuwanderungszahlen, personelle Engpässe in vielen Bereichen, Jugendkriminalität: Die Stadt Wien hat einige Herausforderungen zu stemmen, räumt Stadtchef Michael Ludwig vor dem Landesparteitag der Wiener SPÖ am kommenden Samstag ein.

STANDARD: Nach den jüngsten Zwischenfällen am Reumannplatz hat Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) ein Waffenverbot im öffentlichen Raum für ganz Österreich angekündigt. Warum haben Sie sich bisher nicht für eine Waffenverbotszone am Reumannplatz eingesetzt? Am Praterstern gibt es eine solche seit Jahren.

Ludwig: Eine Waffenverbotszone wird nicht von mir als Bürgermeister festgelegt. Ich habe nie bestimmte Plätze definieren wollen, sondern habe seit 2019 ein generelles Waffenverbot gefordert. Damals war Herbert Kickl Innenminister. Für mich ist nicht einsichtig, warum man mit einer Waffe im öffentlichen Raum unterwegs sein muss, außer man braucht sie beruflich. Ich unterstütze daher den Vorstoß von Innenminister Gerhard Karner.

STANDARD: Der Entwurf des Innenministeriums verbietet das Tragen fast aller Arten von Messern etwa im Ortsgebiet – mit einigen Ausnahmen. Wie beurteilen Sie den Vorschlag?

Ludwig: Das, was ich den Medien entnommen habe, scheint mir sinnvoll zu sein. Aber ich warte noch auf die konkrete Ausformulierung. Prinzipiell bin ich der Meinung, dass das Tragen von Waffen nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu mehr Unsicherheit führt.

STANDARD: Bereits bei Ihrem Amtsantritt 2018 forderten Sie 1000 mehr Polizistinnen und Polizisten für Wien. Was ist daraus geworden?

Ludwig: Ich fordere das weiterhin. Wir decken zwei Drittel der polizeilichen Aufgaben mit einem Viertel des Personalstandes ab. Wien unterstützt auch die Aktivitäten des Bundes, mehr Polizistinnen und Polizisten zu rekrutieren.

STANDARD: Hat sich seit 2018 etwas verbessert?

Ludwig: Es gibt mehr Ausbildungsplätze, es gibt auch mehr Absolventinnen und Absolventen. Aber aufgrund der demografischen Entwicklung gibt es auch überdurchschnittlich viele Pensionierungen. Das ist überall ein Thema.

Interview mit Bürgermeister Michael Ludwig
Ludwig fordert die Wiedereinführung eines Jugendgerichtshofs in Österreich.
Heribert Corn

STANDARD: Die Staatsanwaltschaft hat zuletzt mehr Fälle von schwerer Gewalt im Bereich der Jugendkriminalität registriert. Hat Wien ein Problem mit eskalierender Jugendgewalt?

Ludwig: Es verschiebt sich offensichtlich etwas in der Alterspyramide. Bei den Jugendlichen ist die Kriminalität zurückgegangen, bei den ganz Jungen ist sie gestiegen. Wir nehmen die Entwicklung ernst. Junge Menschen, die Delikte begehen, sollen möglichst früh so begleitet werden, dass man sie wieder von diesem Weg abbringen kann. Wir arbeiten da sehr eng mit der Polizei und Einrichtungen der Sozialarbeit zusammen. Ein schwerer Fehler der damaligen ÖVP-FPÖ-Bundesregierung war die Abschaffung des Jugendgerichtshofs aus politischen Gründen. Dieser sollte wieder eingeführt werden.

STANDARD: Gibt es ein Gesamtkonzept der Stadt gegen Jugendgewalt?

Ludwig: In der Schule gibt es eine ganze Reihe von Projekten, die sich mit Gewaltprävention beschäftigen. Dann gibt es Projekte in der außerschulischen Jugendarbeit. Wir versuchen auch eine gezielte Bubenarbeit zu machen, um deutlich zu machen, dass wir in Wien Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen nicht tolerieren. Wir haben vor wenigen Wochen das Budget für die Männerberatungsstelle verdoppelt.

Interview mit Bürgermeister Michael Ludwig
Wiens Bürgermeister Michael Ludwig spricht sich beim Thema Jugendkriminalität gegen eine Senkung der Strafmündigkeit aus: "Wenn ganz junge Menschen Delikte begehen, sollten sie nicht festgehalten, sondern sozialtherapeutisch betreut werden."
Heribert Corn

STANDARD: Kanzler Karl Nehammer will die Strafmündigkeit senken. Sind Sie dafür?

Ludwig: Ich halte viel davon, junge Menschen möglichst früh zu betreuen. Ob das mit einer Senkung der Strafmündigkeit einhergehen muss, wage ich zu bezweifeln. Wenn ganz junge Menschen Delikte begehen, sollten sie nicht festgehalten, sondern sozialtherapeutisch betreut werden.

STANDARD: Vizestadtchef Christoph Wiederkehr von den Neos fordert angesichts hoher Zuwanderung eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge. Asylberechtigte ohne Job sollen drei Jahre lang in jenem Bundesland bleiben, in dem das Asylverfahren durchgeführt wurde. Sie haben das befürwortet. Wie stellen Sie sich das vor?

Ludwig: Wir prüfen, rechtliche Möglichkeiten dafür zu schaffen. Und zwar auf Ebene des Landes, des Bundes und auch des Europarechts. Helfen würde es uns auf jeden Fall. Wir erwarten uns auch mehr Solidarität vonseiten des Bundes und der Bundesländer. Wien erfüllt die Asylquote zu mehr als 190 Prozent. Durch den Krieg in der Ukraine mussten wir mehr als 4000 Schülerinnen und Schüler im laufenden Schuljahr unterbringen. Das ist quantitativ eine große Herausforderung auf vielen Ebenen.

STANDARD:Was tun Sie, wenn Ihr Ruf nach Solidarität nicht gehört wird?

Ludwig: Alle Fragen, die mit Zuwanderung, Asyl und Migration zu tun haben, sind Bundesmaterie. Falls notwendig, müssen wir politischen Druck auf den Bund ausüben.

STANDARD: Die Engpässe an den Wiener Schulen sind evident – und werden durch den Familiennachzug vor allem von syrischen Asylberechtigten noch verschärft. Welche Maßnahmen setzen Sie?

Ludwig: Es wird deutlich mehr Schulklassen geben. Es werden gerade verschiedenste Schritte gesetzt, um den erhöhten Bedarf schnellstmöglich zu decken. Die Familienzusammenführung ist für uns nun ein Thema, weil das Corona-bedingt schlagartig auf uns zugekommen ist. So waren viele Botschaften geschlossen. Wir entscheiden ja nicht, welche Familienmitglieder nachgeholt werden, das machen das Außen- und Innenministerium.

Interview mit Bürgermeister Michael Ludwig
Die anhaltende Zuwanderung nach Wien stellt die Stadt vor große Aufgaben. "Es ist eine Herausforderung, die uns sehr in Anspruch nimmt", sagt Ludwig. "Und es wird möglich sein, diese zu meistern." Vom Bund fordert er aber mehr Solidarität.
Heribert Corn

STANDARD: Es müssen sogar Containerklassen errichtet werden. Geht sich das alles noch aus für Wien?

Ludwig: Es ist eine Herausforderung, die uns sehr in Anspruch nimmt. Und es wird möglich sein, diese zu meistern. Aber ich erwarte mir vom Bund Solidarität – und mehr Pädagoginnen und Pädagogen in den verschiedensten Bereichen sowie die Bewilligung von mehr Schulstandorten. Wir haben in Wien seit fast 40 Jahren keine neue HTL mehr bekommen.

STANDARD: Die personellen Engpässe in vielen Bereichen, auch beim Lehrpersonal, waren demografisch erwartbar. Sind hier gravierende Planungsfehler passiert?

Ludwig: Wir haben in vielen Bereichen vorausschauende Maßnahmen gesetzt. Im Pflegebereich haben wir zum Beispiel die Ausbildungsplätze mehr als verdoppelt. In der Vergangenheit sind im Bildungsbereich manche Dinge passiert, auf die wir keinen Einfluss hatten. Diese waren kontraproduktiv: So war es ein schwerer Fehler, dass eine Bildungsministerin (Elisabeth Gehrer, ÖVP, Anm.) einst jungen Menschen ausgerichtet hat, nicht den Lehrberuf zu ergreifen.

"Wir haben in Wien seit fast 40 Jahren keine neue HTL mehr bekommen."
Michael Ludwig fordert mehr Bundesschulen in Wien

STANDARD: Beim Landesparteitag der Wiener SPÖ kommt auch ein Antrag der Jungen Generation zur Abstimmung. In diesem wird Kritik an der "Russland-Hörigkeit" von Teilen der SPÖ geübt. Ist die SPÖ zu lange Russland-hörig gewesen?

Ludwig: Da muss man unterscheiden, was vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gewesen ist, was nachher. Natürlich muss das gesamte Friedens- und Sicherheitskonzept neu überdacht werden. Mehrausgaben in die militärische Sicherheit sind in den Ländern der EU derzeit eine Notwendigkeit, um deutlich zu machen, dass wir solch einen Krieg, den Russland begonnen hat, nicht akzeptieren. Es macht Sinn, die österreichische Neutralität, kombiniert mit einer aktiven Außenpolitik, dafür zu nutzen, um Wien als einen Platz für Friedenskonferenzen zu positionieren.

Interview mit Wiens Bürgermeister Michael Ludwig
Ludwig will Bundesparteichef Andreas Babler öffentlich keine Ratschläge geben. "Diese sind auch Schläge." Den inhaltlichen Kurs der Bundes-SPÖ trägt Ludwig in weiten Teilen mit. "In Summe bin ich zufrieden."
Heribert Corn

STANDARD: Die Bundes-SPÖ kommt in Umfragen nicht wirklich vom Fleck, und das schon relativ lange ...

Ludwig: Na ja, wir sind vor eineinhalb Jahren mit 30 Prozent auf dem ersten Platz gelegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir bei der Nationalratswahl intakte Chancen auf Platz eins haben.

STANDARD: Davon ist die SPÖ aktuell weit entfernt. Was raten Sie Andreas Babler und seinem Team, um dort wieder hinzukommen?

Ludwig: Ich muss ihm nichts raten. Er führt die Partei auf Bundesebene, ich konzentriere mich vor allem auf die Aktivitäten in Wien. Wenn ich eingebunden werde und es notwendig ist, auch in der Bundespolitik mitzuentscheiden, mache ich das gerne. Aber ich gebe in der Öffentlichkeit keine Ratschläge. Diese sind auch Schläge.

STANDARD: Sind Sie mit allen inhaltlichen Akzenten der SPÖ einverstanden?

Ludwig: Wer ist das schon? Wer ist mit seiner Partei in allen Bereichen immer zu 100 Prozent einverstanden? In Summe bin ich zufrieden. Die SPÖ setzt auf die richtigen Themen wie den Kampf gegen die Teuerung, den Einsatz für leistbares Wohnen oder ein solidarisches Gesundheitssystem. Aber zusätzlich ist es auch sinnvoll, inhaltliche Diskussionen zu führen, wo man sie für notwendig befindet. Ich bin dafür, dass man innerparteiliche Demokratie lebt. (David Krutzler, Petra Stuiber, 18.4.2024)