In Rajasthan zeigen Frauen im Wahlkampf ihre Unterstützung für Narendra Modi.
AFP/HIMANSHU SHARMA

Die kleine Insel Katchatheevu ist kaum größer als der kleinste Bezirk von Wien. Sie ist unbewohnt, liegt rund 30 Kilometer vor der Küste des südindischen Bundesstaates Tamil Nadu und gehört zu Sri Lanka. Das haben die zwei Staaten bereits in den 1970ern geregelt. Doch nun packt Indien das Thema neu an. Die Insel sei von der Kongresspartei damals "herzlos" an Sri Lanka abgetreten worden, man müsse sie zurückholen, twitterte Premier Narendra Modi jüngst.

Plötzlich bricht Indien also einen Inselstreit mit Sri Lanka vom Zaun, einem Staat, mit dem man eigentlich gute Nachbarschaft pflegt. Die Wurzel der bizarren Kontroverse liegt in der Innenpolitik. In Indien beginnen am Freitag Parlamentswahlen. Über eineinhalb Monate wird die Lok Sabha, also das Unterhaus, gewählt. Und dabei nimmt die Regierungspartei BJP (Bharatiya Janata Party) die Poleposition ein: Wenn man den Umfragen glauben will, darf sich Modi auf eine dritte Amtszeit freuen. Der Regierungschef trumpft mit enormen Beliebtheitswerten auf. Manche meinen gar, Modi sei größer als seine Partei. Und das heißt etwas. Immerhin ist die BJP die größte Partei der Welt.

Seit mehreren Jahren schwappt die "orange Welle" über das Land. Der Fokus auf eine Hindu-Identität, eine "India First"-Politik, gepaart mit geschickter Basisarbeit: Das Erfolgsrezept der Hindunationalisten erinnert an das Großwerden so mancher autoritärer Parteien; Narendra Modis Aufstieg an jenen internationaler Partner wie Benjamin Netanjahu, Viktor Orbán oder Recep Erdoğan.

Im Rücken stärkt die ideologische Mutterorganisation, der rechte RSS, den Aufstieg der BJP. Kritiker sind seit Jahren wachsam: Minderheiten, allen voran Muslime, werden ausgegrenzt, religiöse Konflikte zum Stimmengewinn aggressiv ausgebeutet, Oppositionelle verfolgt, Zivilgesellschaft und freie Presse mundtot gemacht.

Orange Welle im Norden

Die BJP weist das alles zurück. Sie mache eben gute Arbeit an der Basis. Ihre religionsgetriebenen Kernthemen funktionieren vor allem im Hindi-Gürtel, also den Bundesstaaten im Norden und Nordwesten. Doch im Süden macht die Welle regelmäßig halt. 2019 erlangte die BJP im Mehrheitswahlrechtsystem insgesamt 303 von 543 Sitzen. In den fünf südlichen Bundesstaaten ergatterte sie aber gerade einmal 30.

Im Norden kann sich die BJP auf eine treue Kernwählerschaft stützen. Vor allem der wichtigste, weil so bevölkerungsreiche Bundestaat Uttar Pradesh (UP) gilt mittlerweile als Kernland. Ganze 80 Sitze werden hier vergeben. Eine Wahl gewinnt oder verliert man in UP, heißt es daher auch in Indien. Ebenfalls reich an Sitzen, nämlich 48, ist Maharashtra. Spannend zu beobachten wird auch der Punjab: Die großen Bauernproteste der vergangenen Jahre waren von den hier ansässigen Sikhs getragen. 2019 konnte die ehemals so große Oppositionspartei Kongress den Staat zurückgewinnen. Auf Bundesstaatenebene regiert hier die Aam-Aadmi-Partei von Arwind Kejriwal, der vor wenigen Wochen unter großem Aufschrei verhaftet wurde.

Rahul Gandhi, lange Chef der Oppositionspartei Kongress, kann sich gegen Modi nicht durchsetzen.
EPA/HARISH TYAGI

Ebenjene Partei hatte zuletzt – ebenfalls auf Bundesstaatenebene – auch in Gujarat Fuß fassen können, also just in Modis Heimatstaat. Umgekehrt will die BJP wiederum ihren Einfluss in Westbengalen ausbauen, das lange kommunistisch regiert war und heute von der lokalen Trinamool-Partei dominiert wird. Deren Vorsprung ist zuletzt aber gesunken, die BJP sieht hier also eine günstige Gelegenheit. Ähnliche Ausgangssituationen herrschen auch in den vergleichsweise kleinen Staaten Odisha und Telangana im Süden.

Das Tor zum Süden

Und da sind wir wieder im Süden, der sich regelmäßig den nationalen Trends widersetzt. Während sich andere vielleicht politisch geschlagen gegeben hätten, arbeitet die BJP hartnäckig daran, ebendort Fuß zu fassen. Immerhin will man mit einer Allianz landesweit insgesamt über 400 Sitze ergattern. Die meisten Analysten halten das zwar für überambitioniert. Trotzdem bemüht sich die BJP mit besonderem Eifer um einen Bundesstaat, der als "Tor zum Süden" gilt: Tamil Nadu. Seit Jahrzehnten ist hier eine lokale Partei dominant. Vor fünf Jahren konnte die BJP hier keinen einzigen Sitz ergattern.

Das will man nun ändern. Modi hat den Bundesstaat zuletzt siebenmal besucht. Mithilfe von KI hat er seine Hindi-Rede in Echtzeit ins Tamilische übersetzen lassen. Neben der Sprache tickt der Süden auch kulturell anders. Und hier kommt die Insel Katchatheevu ins Spiel: Die BJP hat erkannt, dass man auf Themen setzen muss, die lokal funktionieren. Mit Religion kann man hier keine Wahlen gewinnen, mit Nationalismus aber vielleicht schon.

Hindu-Tempel und Arbeitslosigkeit

Im Norden sieht das anders aus. Im Jänner eröffnete Modi höchstpersönlich den von Hindus lang geforderten Ram-Tempel in Ayodhya. Er ist eine der größten Kontroversen der jüngeren Geschichte Indiens. Just dort stand über Jahrhunderte eine Moschee, die Anfang der 1990er von fanatischen Hindus abgerissen wurde. Das löste wiederum landesweite Unruhen aus. Gegenüber seinen Wählern löste Modi damit aber ein Wahlversprechen ein.

Ein weiteres war die umstrittene Abschaffung von Kaschmirs Sonderrechten im Jahr 2019, die BJP-Sympathisanten ebenfalls nicht vergessen haben. Was genau in Kaschmir vor sich geht, bleibt seither allerdings diffus. Modi wirbt außerdem mit einem beachtlichen Wirtschaftswachstum. Gleichzeitig hat das Land mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen, die von der Opposition immer wieder ins Rennen geführt wird.

Modi, der Weltführer

Da kommt es Modi gelegen, dass er mit einem weiteren Trumpf aufwarten kann: Der 73-Jährige präsentiert sich als "Viswaguru", als "world leader", der Indien zum "Zentrum der Welt" gemacht habe. Man wolle nicht mehr nur ausbalancieren, sondern aktiv in der Welt führen.

Seit 2014 ist Narendra Modi Regierungschef Indiens. Er präsentiert sich als "world leader".
EPA/HARISH TYAGI

All dem kann die Opposition kaum etwas entgegensetzen. Die indische Kongresspartei des gewichtigen Nehru/Gandhi-Clans ist ein Schatten ihrer selbst. 2019 hat die Partei unter Rahul Gandhi gerade noch 52 Sitze im Parlament ergattert. In der "INDIA"-Allianz haben sich zwar fast alle großen Oppositionsparteien zusammengeschlossen – ein wirklich überzeugendes Bild gaben sie aber auf der Wahlbühne nicht ab.

So haben auch Modi-Kritiker kaum Antworten auf die Frage: Wenn nicht Modi, wer dann? Die Gefahr sei groß, warnen manche Kritiker, dass Modi in einer dritten Amtszeit noch autoritärer würde. Da gibt es aber auch die anderen, die beschwichtigen: Die Demokratie in Indien sei stark, heißt es. Es werde wieder ein anderer kommen.

Doch die aggressiven Themen, mit denen die BJP immer wieder punktet, hinterlassen ihre Spuren. Sri Lanka geht einstweilen relativ entspannt mit den verbalen Angriffen auf seine Insel um: Man sehe keinen Bedarf für weitere Diskussionen über eine "geregelte Angelegenheit", ließ Sri Lankas Außenminister Ali Sabry wissen. (Anna Sawerthal, 19.4.2024)