EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begrüßt den früheren italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta beim EU-Gipfel in Brüssel.
Italiens früherer Premier Enrico Letta kehrte als Sonderbeauftragter für Wettbewerb mit einem dicken Bericht zum Ausbau des Binnenmarktes zum EU-Gipfel zurück, von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen herzlich begrüßt.
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Wollen die 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union in den kommenden Jahrzehnten bei Wirtschaftsentwicklung und Technologiewandel mit den USA und Asien – voran China und Indien – auch nur einigermaßen mithalten und ihren Wohlstand erhalten können, müssen sie in wesentlich größeren – gemeinschaftlichen – Dimensionen denken und planen. Zwar gebe es seit 30 Jahren den europäischen Binnenmarkt. Aber die Dynamiken, die die wechselseitige Öffnung der nationalen Volkswirtschaften und Kapitalmärkte seither bieten, seien bei weitem nicht ausgeschöpft.

Zu viel an Bürokratie, zu viel an national gedachten Investitionen behinderten die Entwicklung. Die USA hätten in dieser Zeit ihre Wirtschaftskraft um 60 Prozent steigern können, die EU schaffte gerade die Hälfte davon. Zu diesem ernüchternden generellen Befund kommt ein Bericht des früheren italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta, der am zweiten Tag des EU-Gipfels in Brüssel am Donnerstag im Zentrum der Beratungen stand. Er hatte von den Staats- und Regierungschefs den Auftrag, kompakte Vorschläge zu erarbeiten, wie die Europäer wieder in die Offensive kommen.

33.000 Milliarden Privatkapital nutzen

Nicht zuletzt, um den digitalen und ökologischen Wandel zu finanzieren, neuerdings auch eine ambitionierte Aufrüstung für eine EU-Militärunion, wird es riesige Summen an Investitionen brauchen. Die EU-Kommission rechnete vor, dass pro Jahr 620 Milliarden Euro nötig seien, um den Green Deal und den technologischen Umbau zu finanzieren. In Lettas Bericht heißt es, um das zu stemmen, sollte es vor allem gelingen, das riesige private Kapital von Sparguthaben in die reale Wirtschaft zu lenken. Insgesamt haben die Europäer 33 Billionen Euro, also 33.000 Milliarden Euro auf der hohen Kante.

China bedrohe Europa durch Dominanz der Lieferketten, sagt Letta. Die USA würden zunehmend auf Protektion setzen. Der Italiener erinnert daran, dass die EU "eine letzte Chance" habe, etwa das Projekt einer Bankenunion seit mehr als zehn Jahren vor sich herschiebt, ohne es zu vollenden. Ohne eine "Spar- und Investitionsunion", wie er das nennt, um die Kapitalmärkte anzukurbeln, werde man die Wirtschaft aber nicht wieder flottkriegen.

Das klingt auf dem Papier gut, ist aber zwischen den Mitgliedsstaaten durchaus umstritten. So pocht Frankreich darauf, die Finanzmärkte bzw. die Kapitalmarktaufsicht zu zentralisieren und ganz in Paris anzusiedeln. Fast zwei Dutzend vor allem kleinerer Staaten halten dagegen. Sie wollen zuerst genau klären, wie die Regeln sind, und dann entscheiden, wo die Zentrale angesiedelt wird. Nicht nur dazu gibt es zwischen den Regierungschefs viel Diskussionsbedarf, sagten Diplomaten. Es wird befürchtet, dass Staatspräsident Emmanuel Macron die Regeln nach seinen Vorstellungen machen könnte.

In Infrastrukturen investieren

Letta war dafür fast ein Jahr lang kreuz und quer durch Europa gereist, hat mit 400 Experten und Regierungsvertretern in 65 Städten gesprochen. Auf 147 Seiten kommt er zum Schluss, dass vor allem bei grenzüberschreitenden Infrastrukturen – im Energie- und Bahnnetz etwa – große Potenziale schlummern. In einer Pressekonferenz gestand er ein, wie absurd er es fand, dass es zwischen europäischen Hauptstädten keine Hochgeschwindigkeitszüge gebe, mit Ausnahme im Netz Amsterdam, Brüssel, Paris. Er habe das Flugzeug benutzt.

Aber nicht nur die fehlende Kapitalverfügbarkeit und Risikobereitschaft von Investoren seien ein Problem, sondern die nach wie vor allzu nationalistisch orientierte Förderung durch die Mitgliedsstaaten. Letta schlägt vor, dass jede Regierung einen Teil der Industriesubventionierung, etwa ein Viertel, in einen eigenen EU-Topf einzahlen solle, um grenzüberschreitende Projekte zu fördern.

Wie das dann genau ablaufen soll, lässt er offen. Denn ein guter Teil von Lettas Analyse widmet sich der überbordenden Bürokratie im Binnenmarkt, der Berichtspflicht, die Unternehmen oder auch Bauern leisten müssten. Diese Hemmnisse seien abzubauen.

Über weite Strecken liest sich der Bericht wie ein Brief an das Christkind, was wenig überraschend ist, weil er eine Sammlung von Wünschen und Vorschlägen ist, die er zusammengetragen hat. Nicht zuletzt deshalb gab es im Vorfeld des Gipfels auch viel Kritik am Vorgehen. Der Bericht sei viel zu spät fertig geworden. Die Regierungschefs hätten kaum Zeit gehabt, sich damit eingehend zu befassen. Und viele der Vorschläge seien nicht neu, würden seit Jahren diskutiert, ohne dass es real einen Niederschlag gefunden hätte. Das Thema bleibt also auf der Tagesordnung. (Thomas Mayer, 18.4.2024)