Es hörte sich schon beinahe wie eine Bewerbungsrede an: Die Europäische Union, betonte Mario Draghi am Dienstag im Brüsseler Vorort La Hulpe bei einer Konferenz über soziale Rechte, brauche "radikale Veränderungen", um in einer fundamental veränderten Welt "heute und morgen bestehen zu können". Zu lange habe sich die EU "auf die falschen Dinge konzentriert", noch immer wende sich der Blick der Mitgliedsstaaten nach innen statt nach außen.

In einem geopolitischen Umfeld, in welchem die USA ihre eigene Wirtschaft mit gigantischen Subventionen stützten und in welcher sich China auf der ganzen Welt einen großen Teil der für die Zukunftstechnologien erforderlichen Rohstoffe und Ressourcen sichere, müsse Europa, um wieder wettbewerbsfähig zu werden, zusammenstehen und seine Kräfte bündeln – "wie es unsere Gründungsväter vor 70 Jahren taten".

Mario Draghi am Rednerpult.
Sogar Ungarns Premier Viktor Orbán findet: "Mario Draghi (im Bild) ist ein guter Mann."
EPA/OLIVIER HOSLET

Draghis Auftritt in La Hulpe erinnerte von fern an seine Rede vor Investoren im Sommer 2012, als er auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise als Präsident der EZB ankündigte, "alles Notwendige ('whatever it takes') zu tun, um den Euro zu erhalten". Das hatte ausgereicht, um die Spekulationswelle einzudämmen und das europäische Bankensystem und den Euro zu stabilisieren. Nicht zuletzt aufgrund seiner Kompetenz und seiner Autorität ist der heute 76-jährige Draghi letztes Jahr von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit der Ausarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Union beauftragt worden.

Draghi wird die Endfassung des Berichts zwar erst nach den Europawahlen im Juni präsentieren. Aber seine wichtigsten Schlussfolgerungen liegen nun vor – und mit ihnen eine "Agenda Draghi", die ihm nach der Europawahl den Weg in die höchsten Ämter ebnen könnte, die in Brüssel zu vergeben sind.

Draghi hat entsprechende Ambitionen bisher stets verneint. Aber in Wahrheit wird in der EU-Zentrale und in den europäischen Staatskanzleien schon länger über die Möglichkeit diskutiert, den gebürtigen Römer zum Nachfolger von Ursula von der Leyen zu wählen. Die entsprechenden Gedankenspiele gibt es allein schon deshalb, weil die zum heutigen Zeitpunkt zumindest inoffiziell vorliegenden Optionen für die Besetzung der Kommissionsspitze im EU-Parlament keine Begeisterungsstürme auszulösen vermögen: Amtsinhaberin von der Leyen ist selbst innerhalb der Europäischen Volkspartei (EVP), der sie angehört, nicht unumstritten, und auch die Unterstützung für ihre mögliche fraktionsinterne Gegenkandidatin, die Präsidentin des Europaparlaments Roberta Metsola aus Malta, ist bisher eher lauwarm ausgefallen.

Spekulationen über Zukunft Draghis

Der parteilose Draghi könnte dagegen auf prominente Unterstützung zählen: Laut der Römer Zeitung "La Repubblica", die sich auf "diplomatische Kreise" beruft, macht sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hinter den Kulissen schon länger für den ehemaligen EZB-Präsidenten als Nachfolger von der Leyens stark. Seit der Zeit, als Draghi italienischer Ministerpräsident war (2021 bis 2022), verstehen sich die beiden Mitte-Politiker und wirtschaftsliberalen "Technokraten" bestens; einmal feierten sie zusammen Draghis Geburtstag in einem Nobelrestaurant am Meer. Macron soll in der Causa Draghi auch schon beim deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz vorsondiert haben. Für den italienischen Außenminister und ehemaligen Präsidenten des EU-Parlaments, Antonio Tajani, ist Draghi ohnehin eine Persönlichkeit, "der man jedes wichtige Amt anvertrauen kann".

Macron, dessen Partei der liberalen europäischen Fraktion Renew Europe angehört, hat jedoch ein Problem: Er muss vermeiden, dass die Option Draghi als liberale Kandidatur wahrgenommen würde. Wenn schon, müsste ein solcher Vorschlag aus der EVP kommen, zum Beispiel vom neuen polnischen Regierungschef Donald Tusk. Dieser hat selbst keine Ambitionen auf ein Brüsseler Spitzenamt, weil er zu Hause in Polen erst einmal den Rechtsstaat wieder aufbauen muss. Sein Verhältnis zu Draghi ist aber ausgezeichnet: Als italienischer Ministerpräsident hatte sich Draghi nach dem russischen Überfall auf die Ukraine schneller und konsequenter für Waffenlieferungen an Kiew ausgesprochen, als dies zum Beispiel zu Beginn des Krieges noch die deutsche Regierung tat. Das ist im "Frontstaat" Polen nicht vergessen worden.

Europawahl als Wegweiser

Wie gut oder wie schlecht letztlich die Chancen für Draghi stehen, EU-Kommissionspräsident zu werden, wird man erst nach der Europawahl abschätzen können. Allgemein wird ein Erstarken der rechten und ultrarechten Parteien erwartet – aber nicht in einem Ausmaß, dass sie dem neuen EU-Parlament den neuen Kommissionspräsidenten werden aufzwingen können. In diesem Fall könnte die vermeintliche Schwäche Draghis – nämlich seine Parteilosigkeit – zu einem entscheidenden Vorteil werden: Er könnte sich als ein über den Niederungen der Parteien stehender, neutraler Kompromisskandidat anbieten.

Der rechtspopulistische und autokratische ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der politisch in fast allen Punkten anderer Meinung ist als der Euroturbo Draghi, hat am Dienstag bereits erklärt, dass ihm der frühere EZB-Chef "gefällt". Ob Draghi Kommissionspräsident werde, wisse er nicht, sagte Orbán, aber: "Er ist ein guter Mann." (Dominik Straub aus Rom, 18.4.2024)