Karl Kraus Jubiläum Satire Serie
Karl Kraus sucht und fand in dem Sprachsatiriker Johann Nestroy (1801–1862) einen kongenialen Vorläufer – und einen Verbündeten gegen den Ungeist in jeglicher Zeit.
Hilscher/ÖNB-Archiv

Seine Rede auf Johann Nestroy, 1912 gehalten und damit 50 Jahre nach Ableben des Bühnenkomikers, war für Karl Kraus von größter Wichtigkeit. Der Großessay Nestroy und die Nachwelt geriet ihm zum Plädoyer in eigener Sache: flammend genug, um jeden Kalender zu verbrennen – und mit ihm den Anlass zur Wortergreifung.

Nestroys satirisches Genie, sein hohnlachender Sprachwitz, wurde von der Nachwelt oft genug auf plumpe Komik reduziert. Kraus meint: In Wien lässt das Volk den Humor erst dann ungeschoren, wenn es zusätzlich den "Hamur" bekommt. Und in der Tat weckt nichts zuverlässiger Überdruss als eine Nestroy-Aufführung, die sich dem Klamauk verschwört und den Prügel der Züchtigung auf Domestikenbuckeln tanzen lässt.

Kraus hält hohnlachend dagegen. Es ist Nestroys Satire, die der seinen unverkennbar Aufwind bescheren soll. Der Herausgeber der Fackel stellt fest, dass eine Generation, die sich von Nestroy bereitwillig das Zwerchfell kitzeln lässt, doch nur gegen ihn lacht.

Missliebige Zeit

Kraus hat einer Zeit die Gegnerschaft geschworen, die den Witz ausquartiert, um ihn in die Lachspalten ihrer Jux-Journale zu verbannen. Alles, was an der Gesellschaft in der Zeit des Vormärzes töricht war, autoritär und missliebig, ist so geblieben, wie es Nestroy schon damals für alle Zeit missfallen hat. Mit dem Unterschied, dass Kraus seine eigene Zeit noch ekelhafter dünkte, als es die vormärzliche jemals gewesen war.

Als Lustigmacher ist Nestroy somit für keine Gegenwart zu retten. Sein zündender Witz wählt nämlich die kürzeste aller Routen. Er springt heraus aus den engen Gewölben der Gewürzkrämer, er flieht auch alle anderen politischen Bedrückungen. Er hüpft, sozusagen aus dem Stand, hinauf – und gewinnt scheinbar anstrengungslos den Himmel der Erkenntnis.

Es ist besagte Minimaldistanz, die für den ganzen Sprachwitz einsteht, der beide im gleichen Maße auszeichnet, Kraus wie seinen Vorgänger am Wiener Carltheater. Das Zurücklegen besagter Strecke dauert so lange, wie der widersetzliche Gehalt eines Gedankens benötigt, um zu "zünden".

Der Witz misst genau die "Wegweite zwischen einem Geschauten und einem Gedachten". Mit dieser folgenschweren Definition vollzieht Kraus die Eingliederung der Satire – "seiner" Satire – in den Gattungsbereich der schönen Künste. Und er hält fest: Johann Nestroy hat in seinen über 70 Stücken, während dreier Jahrzehnte von 1830 bis 1862 verfasst, die Bedürfnisse des Publikums verachtet und sie dennoch befriedigt, um desto ungehinderter "empordenken" zu können.

Doppelexistenzen

Nestroys Figuren führen Doppelexistenzen. Mit dem einen Fuß stehen sie in ihrer Profession, mit dem anderen in der Philosophie. Dabei geraten die Figur und der räsonierende Denker niemals miteinander zur Deckung. Doppelt Belasteten droht die akute Atemlosigkeit – erst die Sprachsatire markiert den Ausweg.

Jede famose Nestroy-Figur tritt daher auf als "kostümierte Anwältin ihrer satirischen Berechtigung". Das Theater mag sich gegen so viel Literatur sträuben. Es ist Nestroy, der für den Schauspieler einspringt. Im Satiriker, sagt Kraus, macht sich die Sprache Gedanken über die Dinge. Wer so denkt, wird an der Leine der Sprachlogik geführt und findet keine Zeit, "Gesinnung" zu bekennen. Im Zweifel lehnte Nestroy revolutionäre Umtriebe ab. Zu der alten Borniertheit der Herrschenden gesellt sich nämlich die neue der Unruhestifter. Auch Kraus fand zu folgendem Schluss: Man hält es im Zweifel lieber mit der Reaktion, wenn einen der Fortschritt schwindelhaft dünkt.

In Nestroy fand Kraus, der begnadete Vortragskünstler, jenen Vorfahren, den er neben sich gelten ließ. Beider Witz war der nämliche: "Der Witz lästert die Schornsteine, weil er die Sonne bejaht." Pause. "Und die Säure will den Glanz und der Rost sagt, sie sei nur zersetzend." (Ronald Pohl, 18.4.2024)