Franz Beckenbauer zeichnete sein Tor bei der WM 1966 gegen die UdSSR: Ein Fernschuss mit links, vorbei am legendären Torhüter Lew Jaschin.
Franz Beckenbauer/Insel Verlag

Seit 2005 stellt Javier Cáceres Fußballstars die Frage nach dem erinnerungswürdigsten Tor ihrer Karriere. Er bittet sie, den Treffer in seinen Notizblock zu zeichnen. Mehr als 100 solcher Skizzen sind im Buch "Tore wie gemalt" abgedruckt: Klappt man es auf, steht auf der linken Seite eine kurze Schilderung, auf der rechten Seite eine Skizze von Pelé, Lothar Matthäus oder Pep Guardiola. Eine herrlich simple und witzige Idee, die Anekdoten und Geschichten hinter den Toren freilegen. DER STANDARD erreichte Cáceres telefonisch in Madrid, wo er als Reporter der "Süddeutschen Zeitung" vom Champions-League-Spiel Borussia Dortmunds bei Atlético berichtete.

STANDARD: Welches war Ihr spektakulärstes, bedeutendstes Tor?

Javier Cáceres: Ich kann mich an eines aus meiner Zeit in der Jugend bei Werder Bremen besonders erinnern. Ich weiß nicht mehr, gegen wen ich getroffen habe. Es war nach einer Ecke, eine Volleyabnahme mit meinem schwachen rechten Fuß. Ich erinnere mich deshalb so gut an das Tor, weil der Schiedsrichter danach auf mich zukam und sagte: "Schönes Tor."

STANDARD: Wie ist Ihr Buchprojekt entstanden?

Cáceres: Durch einen spontanen Zufall. In einem Interview schilderte mir der chilenische Stürmer und Nationalheld Leonel Sánchez ein Tor, von dem ich gehört, das ich aber nie gesehen hatte. Er versuchte, es mir zu erklären, aber ich stand auf dem Schlauch. Also hielt ich ihm den Block rüber und bat ihn, mir das aufzuzeichnen. Das tat er gerne. Das Gespräch nahm dadurch eine neue Wendung. Er konnte sich an jedes Detail erinnern, etwa, was die Position des Schusses angeht. Das hat mich dazu gebracht, es auch bei anderen Gesprächspartnern zu versuchen.

STANDARD: Wie fielen die Reaktionen auf Ihre Bitte aus?

Cáceres: Das hat fast immer funktioniert. Ich habe versucht, denselben Block mitzunehmen. Je mehr Tore ich beisammen hatte, umso eher machten sie mit. Bei Franz Beckenbauer hat es ein bisschen gedauert, bei dem war eine Schwelle zu überwinden.

STANDARD: Was ist passiert?

Cáceres: Mein Vater ist pensionierter Journalist. Er fragte ihn schon vor der WM 1982 in Spanien nach seinem schönsten Tor. Ich habe Beckenbauer bei der WM 2010 in Südafrika getroffen und sprach ihn darauf an. Er sagte mir, der Torhüter Lew Jaschin war wie ein Held für ihn. Dass ihm bei der WM 1966 im Halbfinale ausgerechnet gegen ihn ein schöner Treffer gelang, war die Krönung für ihn. Dann hat er mich aber stehengelassen. Er schrieb mir ein Autogramm ins Büchlein und sagte: "Mal's selbst."

STANDARD: Wie konnten Sie Beckenbauer überreden?

Cáceres: Jahre später waren wir zusammen bei Sky für einen Champions-League-Abend als Experten eingeladen. Ich hatte ein Foto dabei von Beckenbauer und meinem Vater von 1982. Er sagte, er könne sich an den Herrn sehr gut erinnern. Dann war das Eis gebrochen. Er malte!

STANDARD: Gab es jemand, dem Ihre Idee nicht gefallen hat?

Cáceres: Es war selten, dass sich einer geweigert hätte. Uwe Seeler ist mir einmal quasi davongelaufen. Der wollte nicht, nach dem Motto: Ich kann nicht zeichnen. Aber meistens bin ich offene Türen eingerannt.

STANDARD: Was haben Sie beim Projekt gelernt?

Cáceres: Dass jedes Tor seine Geschichte hat. Manchmal kamen sehr lustige Details zutage. Andi Brehme zum Beispiel – dieses Tor ist nicht in meinem Buch – soll beim Elfmeter im WM-Finale 1990 an seinen Bruder gedacht haben. Weil der zu dem Zeitpunkt gerade auf Mallorca war, und er wollte ihm den Abend nicht verderben. Das sind Geschichten, die nicht auf der Hand liegen. Lustige, aber auch bemerkenswerte Geschichten.

STANDARD: Haben Sie ein weiteres Beispiel?

Cáceres: Das Tor von Lilian Thuram. Er malte ein Jugendtor, das sein ganzes Leben veränderte. Er erzählte mir, dass er als Teenager in einem Trainingsmatch für einen neuen Klub vorspielte. Dabei erzielte er mehrere Tore, eines davon herrlich in den Winkel. Dadurch wurde er in den Klub aufgenommen, zu dem er wollte, aber eigentlich gar keinen Zugang gehabt hätte. Weil er das Gefühl hatte, das wäre ein Verein, der für ihn, einen Jungen aus der Banlieue, zu bürgerlich war.

Michael Ballack erwähnte seinen Freistoßtreffer bei der EM 2008 gegen Österreich lobend, in Deutschland wurde es zum Tor des Jahres gekürt. Bedeutsamer war für ihn aber sein Tor zum 1:0 gegen Südkorea im WM-Halbfinale 2002. Die Hereingabe von Oliver Neuville überließ Oliver Bierhoff im Zentrum Ballack, der aus vollem Lauf einen schwachen Schuss abgab. Der Abstauber landete wieder bei Ballack, der Ball danach im Tor. Beim Jubel an der Eckfahne wunderte sich Ballack, dass er alleine blieb: "Da kam keiner zum Jubeln, so kaputt waren die alle.“
Michael Ballack/Insel Verlag

STANDARD: Auch Michael Ballack kommt in Ihrem Buch vor. Glücklicherweise nicht mit dem Freistoßtor von der EM 2008 gegen Österreich.

Cáceres: Er hat aber gezweifelt, ob er es nicht doch nehmen soll. Aufgrund der Wichtigkeit entschied er sich für eines aus dem WM-Halbfinale 2002 gegen Südkorea. Aber an das Tor gegen Österreich erinnerte er sich auch noch sehr genau. Er sagte mir, dass es für ihn so eine große Dimension angenommen hatte, weil damals zum ersten Mal Super-Slowmotion eingesetzt wurde. Die Bilder des Tores waren noch einmal spektakulärer.

STANDARD: Der einzige Österreicher im Buch ist Christopher Trimmel. Dessen Skizze sieht im Vergleich zu vielen anderen Toren sehr strukturiert aus.

Cáceres: Das liegt an seiner künstlerischen Ader. Und: Wir hatten beim Gespräch keine Eile, er konnte das in Ruhe aufzeichnen. Hätte ich ihn nicht nach seinem besten Tor gefragt, hätte ich nie erfahren, dass er einen der schnellsten Hattricks Europas erzielt hatte. Er erzielte drei Tore in sechs Minuten. In Österreich war nur Hansi Krankl einmal ein bisschen schneller.

Christopher Trimmel erzielte in der Saison 2009/10 bei einem 5:1 Rapids gegen Austria Kärnten drei Tore binnen sechs Minuten. Ein paar Tage später traf er per Kopf nach Flanke von Markus Katzer zum 2:2 gegen APOP Kinyras. Der Treffer war gleichbedeutend mit dem Einzug in die Gruppenphase der Europa League und für Trimmel dessen wichtigster Treffer der Karriere.
Christopher Trimmel/Insel-Verlag

STANDARD: Ging etwas beim Projekt schief?

Cáceres: Ich habe noch einige Zeichnungen von großen Toren. Aber mir sind mit den Jahren ein paar Tonbandaufzeichnungen verloren gegangen – und damit die Schilderungen, die mindestens so wichtig sind für das Buch wie die Zeichnungen selbst.

STANDARD: Sie waren auch hinter Maradona her, die Hand Gottes hat es nicht ins Buch geschafft.

Cáceres: Ich habe es versucht und war ein paar Mal nahe dran. Aber manchmal gibt es auch Pfosten- und Lattentreffer. Ich weiß gar nicht, ob Maradona die Hand Gottes genommen hätte. Ich glaube, er hätte das andere genommen aus dem Spiel, das Dribbling aus dem Viertelfinale gegen England bei der WM 1986 in Mexiko. Dieses Spiel war dermaßen beladen mit vielen anderen Dingen. Maradona hat auch ein Wahnsinnstor für Barcelona im Marakana von Belgrad geschossen. Wahrscheinlich hätte er einen ganzen Katalog mit bedeutsamen Toren füllen können.

STANDARD: Was bedeutet Fußball für Sie?

Cáceres: Als Kind war es ein herrlicher Zeitvertreib, dann etwas, was ich mit großer Passion betrieben habe. Heute begleite ich den Profisport journalistisch und sehe auch Verwerfungen, die die Kommerzialisierung hervorruft. Aber der Fußball ist immer noch ein Kulturphänomen, Romantik, Geschichte. Und das merkt man bei Begegnungen mit denen, die den Fußball ausmachen, den Spielern. Dieses Projekt hat mich deshalb immer wieder mit dem Fußball versöhnt.

STANDARD: War es schwierig, mit dem Buch aufzuhören, es zu einem Ende zu bringen und in Druck zu gehen?

Cáceres: Im eigentlichen Sinne gibt es keinen Schlussstrich. Mir macht es Spaß, in solchen Erinnerungen zu wühlen. Es fasziniert mich, mitzuerleben, wie die Schützen ihre Tore neu denken, obwohl sie so lange zurückliegen. Warum sollte ich aufhören? (Lukas Zahrer, 17.4.2024)