Es war ein Rechtsstreit wie der Kampf von David gegen Goliath. Jetzt haben die Schweizer Klimaseniorinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) recht bekommen. Wie das Höchstgericht am Dienstag feststellte, hat die Schweiz aufgrund zu lascher Klimaschutzmaßnahmen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen.

Die Klage der Seniorinnen gilt als erste Klimaklage, die vor dem EGMR verhandelt wurde, und hat für die europäische und österreichische Klimapolitik große Bedeutung. Der Gerichtshof stellt in seinem Urteil erstmals explizit klar, dass Menschen aufgrund der EMRK ein Recht darauf haben, "vor den schwerwiegenden negativen Auswirkungen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität" geschützt zu werden.

Klage aus Österreich anhängig

Neben den Klimaseniorinnen hatten im Jahr 2020 sechs portugiesische Kinder Beschwerden gegen 32 europäische Staaten eingebracht, darunter Österreich. Der EGMR wies diese Beschwerde aus formalen Gründen zurück und verwies die Jugendlichen an die jeweiligen nationalen Gerichte. Erfolglos blieb auch eine dritte Beschwerde, die der ehemalige Bürgermeister des nordfranzösischen Grande-Synthe gegen Frankreich eingebracht hatte, weil seine Heimatgemeinde vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht sei. Hier sah sich der EGMR ebenfalls nicht zuständig.

Auch eine österreichische Klimaklage ist am EGMR anhängig. Sie betrifft einen Mann, der an Multipler Sklerose leidet und deshalb laut Anklage besonders stark von den Folgen der Klimakrise betroffen sei. Klimaanwältin Michaela Krömer, die den Mann vertritt, ortet angesichts des Urteils "hohe Chancen" für ihren Mandaten. Im Gegensatz zu den Seniorinnen seien die Auswirkungen der Erwärmung für ihn bereits jetzt vorhanden. "Wichtig ist, dass bald etwas passiert, sonst überholt die Realität die juristische Realität."

Anne Mahrer und Rosmarie Wydler-Walti von Schweizer Klimaseniorinnen feiern ihren Erfolg.
Anne Mahrer und Rosmarie Wydler-Walti von Schweizer Klimaseniorinnen feiern ihren Erfolg.
REUTERS/Christian Hartmann

Klimaschutz als Menschenrecht

Die Klimaklagen vor dem EGMR eint ihr Ziel: Sie sollen Europas Staaten zu stärkeren Maßnahmen gegen die Klimakrise zwingen. Rechtlich argumentierten die Klägerinnen und Kläger mit zentralen Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Staaten dazu verpflichten würden, Menschen vor der Klimakrise zu bewahren. Die Klimaseniorinnen hatten zusätzlich ins Treffen geführt, dass steigende Temperaturen die Gesundheit älterer Personen besonders gefährden würden.

Der EGMR stellt in seinem Urteil nun mehrere Dinge klar: Zum einen treffe die europäischen Staaten die Pflicht, Menschen vor der Klimakrise und ihren Auswirkungen zu schützen. Der Gerichtshof stützt sich dabei vor allem auf Artikel 8 der EMRK, das Recht auf Privat- und Familienleben. Die Richterinnen und Richter weisen darauf hin, dass die Lasten der Klimakrise generationenübergreifend verteilt werden müssen. Zudem brauche es angemessene gesetzliche und behördliche Maßnahmen, um die Klimaziele zu erreichen. Bei der Wahl der konkreten Mittel hätten Staaten aber einen Spielraum.

Bedeutung für Österreich

Die Entscheidung über die Schweizer Klimaseniorinnen hat für Österreich enorme Bedeutung. Hierzulande steht die Menschenrechtskonvention im Verfassungsrang und ist direkt anwendbar. Bei der Auslegung der Konvention orientiert sich der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) stark am EGMR.

Anwältin Krömer schätzt das Urteil als "sehr positiv" ein. Der Gerichtshof habe klargestellt, dass Staaten ihre Schutzpflicht verletzten, wenn sie keine adäquaten Klimaschutzmaßnahmen setzen. Zugleich habe der EGMR aber auch die Spielregeln für künftige Klagen definiert: Erst müssten in den Nationalstaaten entsprechende Verfahren geführt werden, bevor der Weg zum EGMR führt.

Interessant ist für Österreich auch ein verfahrensrechtlicher Aspekt der Entscheidung, erklärt Wilhelm Bergthaler, Professor am Institut für Umweltrecht der JKU Linz, dem STANDARD. Der EGMR hat zwar individuelle Beschwerden der Schweizer Pensionistinnen zurückgewiesen, die Beschwerde ihrer gemeinsamen NGO jedoch zugelassen. Laut dem Höchstgericht muss es verfahrensrechtliche Bestimmungen geben, mit denen NGOs Klimaschutz rechtlich geltend machen können. "Das trifft wunde Punkte in unserem Rechtssystem, weil wir gegen die Untätigkeit des Gesetzgebers beim VfGH derzeit nichts oder nur über Umwege etwas ausrichten können", sagt Bergthaler.

Klimaklagen sind in Österreich in der Vergangenheit vor allem aus formalen Gründen vor den Höchstgerichten gescheitert (siehe Wissen unten). So mancher Insider vermutete gar, dass der Verfassungsgerichtshof die Entscheidungen am EGMR abwarten wollte, bevor er sich selbst inhaltlich äußert. Einen Hinweis darauf lieferte VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter zuletzt auch in einem Interview mit dem "Profil". Man warte "gespannt" auf die Entscheidungen des EGMR, ließ Grabenwarter wissen.

Treibhausgase auf Rekordniveau

Österreich hinkt seinen Verpflichtungen beim Klimaschutz hinterher. Laut EU-Vorgaben müsste Österreich seine Emissionen bis 2030 im Vergleich zu 2005 um 43 Prozent reduzieren. Nach aktuellen Berechnungen des Umweltbundesamts verfehlt Österreich dieses Ziel um mindestens zehn Prozentpunkte. In den vergangenen zwei Jahren ist der nationale Treibhausgasausstoß zwar zurückgegangen, er bewegt sich aber nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau.

Global gesehen befinden sich Treibhausgase ebenfalls auf Rekordkurs, wie aktuelle Daten der US-Klimabehörde NOAA zeigen. Ein Abwärtstrend zeichnet sich demnach nicht ab. Derzeit jagt zudem ein Hitzerekord den nächsten: Februar und März waren nicht nur die wärmsten Frühjahrsmonate in Österreich seit Beginn der Messgeschichte, auch global gesehen erreichte die durchschnittliche Temperatur Höchstwerte. Laut neuen Daten des EU-Klimawandeldiensts Copernicus lag die globale Durchschnittstemperatur in den vergangenen zwölf Monaten mehr als 1,5 Grad über vorindustriellen Werten. (Nora Laufer, Jakob Pflügl, 9.4.2024)