Der gemeinsame Ton der Brauchtumspflege macht angeblich die Volksmusik: Die von der ÖVP angezettelte "Leitkultur"-Debatte verkennt, dass die Verpflichtung auf Werte zumeist Ausdruck einer Krise ist.
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Werte besitzen eine unangenehme Eigenschaft. Die wichtigsten rutschen einem, kaum dass man sich ihrer besinnt, wie nasse Seifenstücke durch die Finger. Seit die Volkspartei eine Debatte über heimische Leitkultur angezettelt hat, gerät sie von einer Verlegenheit in die nächste. Die ÖVP möchte für Volksmusik und Philharmoniker optieren.

Zugleich soll die Geltung von Sitten und Gebräuchen "gesetzlich verankert" werden. Als ob es nicht tausenderlei Vorlieben gäbe, nach Herkunft und Sitte geschieden. Leitkultur meint ein Füllhorn von Werten und Sinnangeboten. Sie alle sind flächenwirksam, sogar "wirkmächtig". Man findet sie zwischen Leitha-Gebirge und Bodensee jedoch recht unterschiedlich verteilt.

Das Wenden der Bratwurst

Ist der letzte Maibaum gefällt, alle Blasmusik pianissimo verklungen, müssen selbst gestandene Freunde der Brauchtumspflege einräumen: Es fällt nicht leicht, Werte – die doch unser aller Handeln anleiten – beim Namen zu nennen.

Dagegen scheint es ausgesprochen schwierig, die Allgemeinheit auf mehr als auf Gesetzestreue zu verpflichten. In der von Ministerin Raab forcierten Unbestimmtheit meint "Leitkultur" oft nur ehrenamtliches Engagement: das Wenden der Bratwurst auf dem Dorfgrill. Die Bestimmung ihres Fettgehalts bedarf keines Eintrags im Verfassungstext.

Werte besitzen eine natürliche, schlechthin unentbehrliche Funktion. Sie legen die Mitglieder einer Gesellschaft auf ein bestimmtes Handeln fest, müssen aber noch lange nicht im Mund geführt werden. Es gehört zum "Stil" einer Epoche, die "Einheitlichkeit" des Denkens und Fühlens zu gewährleisten. Stil sei "gelebte Haltung". Damit meinte der deutsche Sozialphilosoph Jürgen Habermas jedoch nicht den "Lebensstil", den Ärzte aus Anlass einer Durchuntersuchung zum Gegner der Langlebigkeit erklären.

Akute Gefährdung

Zur Verklärung des Wertes – im Grunde jeder Form von Werthaltigkeit – trägt sein akut gefährdetes Wesen bei. Seit Verdämmern des religiösen Zeitalters wurde die Menschheit in die Mündigkeit entlassen. Mutter Kirche, vordem die einzige Autorität in Fragen der Sinnstiftung, ließ sich nicht mehr konsultieren.

Der eine umfassende Lebenswert, der des Glaubens an den christlichen Gott, wich einer Vielzahl von Begründungen. Zugleich beschied die Aufklärung ihren Parteigängern schleichende Auszehrung. Autor Hermann Broch (1886–1951), der große Diagnostiker der Moderne, nannte diese Begleiterscheinung den "Zerfall der Werte". Anstatt von religiösen Heilsversprechen erwärmt zu werden, genossen denkende Menschen von nun an die Eiseskälte logischer Abstraktion.

Seitdem leben nicht nur die Bewohner Österreichs überwiegend gut und wohlbestallt, nach Maßgabe einer Vielzahl von Werten. Wer jetzt noch beflissen für "seinen" Wert Partei ergreift, gerät unter Verdacht. Ein solcher Eiferer müsste Antwort geben auf die Gretchenfrage, ob er willens ist, Toleranz zu üben, die Werte der Demokratie anzuerkennen – oder ob in ihm ein Gottesstaatsbürger schlummert oder ein Totalitarist.

Lob der Verständigung

Gerade in Zeiten der Not und Orientierungslosigkeit wird die Vergangenheit als Nothelfer angerufen. Als Europas Nationen 1914 kollektiv in den Abgrund eines Weltkriegs taumelten, priesen Maulhelden aller Couleurs "diese große Zeit".

Anstatt sich für Gott, Kaiser oder Vaterland von einer Granate zerreißen zu lassen, plädieren heutige Parteigänger des Verfassungsstaates lieber für den "deliberativen Abgleich" gemeinsamer Interessen. Ohne Aufhebens zu machen, hat man leitkulturelle Werte in die Sphäre der Allgemeinheit verlagert. Dort tut es not, sich über gemeinsam Gewünschtes kommunikativ zu verständigen.

Es mag im Einzelfall zu klären sein, ob gelebtes Brauchtum den Verzehr eines goldbraun gebackenen Schnitzels vorsieht. Moderne Daseinsfürsorge versteht unter Wert häufig den des Cholesterins. Man kann, wie vom Herrn Bundeskanzler angeregt, unsere Kinder mit Cheeseburgern füttern. Eine Aufnahme in die Verfassung heischt eine solche Ernährungsinitiative nicht. (Ronald Pohl, 4.4.2024)