Émile ist tot. Das ist die zutiefst traurige, und zugleich die einzige gesicherte Erkenntnis in einem Fall, der Frankreich seit bald neun Monaten bewegt, ja richtiggehend umtreibt. Zu verwundern mag das nicht: Émile war ein reizender zweieinhalbjähriger Bub. Doch im vergangenen Juli, als er bei seinen Großeltern mütterlicherseits im alpinen Weiler Haut-Vernet Urlaub machte, war er plötzlich verschwunden. Einfach weg.

Am Dienstagabend bestätigte der Staatsanwalt Jean-Luc Blachon an einer Pressekonferenz, dass eine Wanderin an Ostern entlang eines Weges einen Schädel gefunden habe. Fast neun Monate nach dem Verschwinden. Der Kinderschädel gehört laut DNA-Proben zweifelsfrei Émile. Ein Stück weiter fanden die Ermittler am Montag verstreut einige Kleider – sein Hemd, seine Hosen und Schuhe. Der Chefermittler präzisierte, an dem Knochen seien Biss- und Kratzspuren gefunden, die "post mortem", also nach dem Tod zugefügt worden seien, möglicherweise durch Tiere. In der Nähe befinde sich außerdem ein Bach, der sich bei Regen in ein Wildwasser verwandeln und schwere Objekte wie einen Körper mitführen könne. Der Fundort liege etwa zwei Kilometer außerhalb des Weilers Haut-Vernet, rechnete Blachon vor.

Die Straße nach Haut-Vernet wurde am Wochenende genau kontrolliert.
IMAGO/Durand Thibaut/ABACA

Zu wichtigen Fragen schwieg er sich indessen aber aus: Was ist mit dem Rest des Leichnams geschehen? In welchem Zustand waren die Kleider – zerrissen, blutig oder ohne Beschädigung? Die Justiz ermittelt weiterhin wegen drei möglichen Todesursachen: Unfall, fahrlässige Tötung oder Mord. Mögliche Tatbestände seien "Entführung" und "Freiheitsberaubung", sagte der Staatsanwalt.

Grausiger Fund

Damit gab er indirekt zu, dass die Ermittler weiter im Dunkeln tappen. Auch bezüglich der Frau, die den Schädel am Samstag gefunden hatte. Sie habe die sterblichen Überreste in einen Plastiksack gesteckt und sei nach Hause gegangen, um die Polizei anzurufen, sagte Blachon. Kein Wort, dass das Verhalten der Wanderin strafbar ist: Sie hatte den Fundort, der womöglich auch der Tatort war, nicht intakt gelassen und hatte den Schädel auch nicht zur Polizei gebracht. Die Wissenschaftspolizei hätte der vorgefundenen Konstellation entlang des Wanderweges sicher wertvolle Hinweise entnehmen können.

Sonderbar mutet auch an, dass die Polizei zwei Tage vor dem Fund die Einwohner von Haut-Vernet zu einer Nachstellung im Dorf aufgeboten hatten. Französische Medien fragen sich, ob jemand die Nerven verloren und den Schädel bewusst platziert habe. Vielleicht gar, um die Polizei mit einem Leichenteil auf eine falsche Fährte zu locken?

Der Staatsanwalt hat keine Antwort. Viele Franzosen haben das Gefühl, dass die Justiz versagt hat: Trotz monatelanger Suchoperationen mit Hunden, Drohnen und Infrarotkameras fanden sie nichts. Sogar eine einzelne Wanderin fand mehr.

Auf die Frage, ob die ominöse Wanderin aus dem Dorf Haut-Vernet stamme, antwortete Bürgermeister François Balique so undurchsichtig, wie sein 25-Seelen-Ort gegen außen wirkt: "Wenn das so wäre, wüsste ich es. Hier weiß man alles, auch das, was es gar nicht gibt."

Viele Rätsel

Die Polizei hat den verschwiegenen Weiler über Ostern ganz abgeriegelt. Auch die Medien haben keinen Zugang mehr. Sie fragen nun: Wer war der Unbekannte, der das Haus von Émiles Urgroßvater 2019 in Brand gesteckt hatte? Und welche Bewandtnis hat es mit Émiles Großvater, einem strengen Katholiken, der Priester werden wollte und in einer religiösen Schule Kinder so stark ohrfeigte, dass er jetzt wegen Misshandlung Minderjähriger vor Gericht steht?

Einsam und wild ist die Landschaft dort.
IMAGO/AUTRE

Rätsel über Rätsel, Trauer ohne Auflösung. Viele Franzosen kommen da nicht mehr mit: Neun Monate nach der Tat vereint die Polizei das kleine Dorf, ohne weiterzukommen. Aber zwei Tage später findet jemand Émiles Schädel. Nochmal zwei Tage findet die Polizei seine Kleider. Warum erst jetzt? Viele fragen sich nach der Pressekonferenz des leitenden Staatsanwaltes, ob er jemals herausfinden wird, was an jenem 8. Juli in Haut-Vernet passiert ist.

Im November hatte Émiles Mutter einen herzerweichenden Appell erlassen: "Versteht bitte unsere Not, sagt uns, wo Émile ist. Auch wenn er tot ist, gebt ihn uns zurück, lasst ihn nicht ohne ein Grab, bei dem wir uns niederknien können." Ihr letzter Wunsch wird nun in traurige Erfüllung gehen. (Stefan Brändle aus Paris, 2.4.2024)