So kuschelig warm ist es selten in den Ausläufern von Russlands Provinz – echt nur mit Seeblick: Jungdichter Kostja (Nils Arztmann) und Jungmimin Nina (Paula Nocker) haben einander, ganz entgegen dem Anschein, gründlich verfehlt.
Moritz Schell

In Anton Tschechows Komödie Die Möwe (1896) können eine strahlende Mutter und ihr schwacher, vor Sensibilität ganz hasenherziger Spross nicht voneinander lassen. Die Arkadina (Sandra Cervik) ist eine Provinz-Duse, als solche steht sie im Spätherbst ihrer Schauspielerinnenkarriere. Sohn Kostja (Nils Arztmann) würde, wiewohl ins Hinterland verbannt, gerne mit der Erschaffung avantgardistischer Kunst von sich reden machen.

Zwei Generationen: zweierlei Arten, sich eigenhändig Flausen in den Kopf zu setzen. In den Wiener Kammerspielen begegnen Mama und Bub einander vor einem schwarz-weißen Flimmerscreen als Hamlet und Gertrude, die einander Shakespeare-Phrasen an den Kopf werfen: Ewig lockt der Ödipus.

Die Bretter, die in ihrem Fall nicht die Welt bedeuten, sondern Russlands Provinz, hat die Arkadina aus Gründen der Opportunität in den Alltag hinein verlegt. Hier, auf einem Seegrundstück vor plätscherndem Großgewässer (ein womöglich kaspischer See), wird sie als Paradiesvogel von Unglücksraben umschwärmt und wie ein Signal aus Paris oder London gehörig bestaunt. Die Ausstattung (Herbert Schäfer, Vasilis Triantafillopoulus) zaubert dazu die lichte Atmosphäre eines All-inclusive-Ferienklubs, in dem man auf der Matratze gerne bodennah zur Sache kommt.

Da wäre noch die titelgebende Möwe. Jungschauspielerin Nina (Paula Nocker) irrlichtert durch diese Gesellschaft von Nichtsnutzen. Bald schon bildet sie den Einsatz im Ringelspiel der Hörigen. Sonst befinden sich unter den Landbewohnern vornehmlich Säufer beiderlei Geschlechts, die, von erotischer Drangsal geplagt, mit sich und ihren Produktivkräften nichts Rechtes anzufangen wissen.

Ohne Erhörung

Johanna Mahaffy als unglücklich liebende Mascha spielt das hinreißend: Sie, die Kostja ohne Aussicht auf Erhörung verfallen ist, blickt auf den Grund ihres Wodkaglases wie auf den Boden der Tatsachen. Grandios auch Martin Schwab, der als Arkadinas Bruder Sorin den geriebenen Greis gibt, der, vom Leben enttäuscht, allen kundzutun wünscht: Hier krakeele ich. Ich kann nicht anders.

Und doch muss man trotz einiger hübscher Details innehalten. War nicht erst vor eindreiviertel Jahren eine Möwe im Theater Reichenau zu sehen, wie jetzt in Wien inszeniert von Torsten Fischer? Versanken nicht dieselben Protagonisten unter der Last des Nichtstuns? War dieselbe Nina (Nocker) damals nicht raumfüllender: drängender, vor jugendlicher Unrast platzend?

Und so geraten Regisseur Fischer in seiner neuen "freien Bearbeitung" doch ein paar Dinge aus dem Blick. Arkadinas Geliebter Trigorin (Claudius von Stolzmann) ist viel zu blass, um jemals – wie behauptet – ein Kolportagedichter des Lebens zu sein. Manches, wie der finale Akt, wird von den handelnden Beteiligten desinteressiert zu Ende gespielt.

Übrig bleibt der flüchtige Blick auf eine Ansammlung von Neurotikern. Mitunter haben Tschechows Heldinnen und Helden dann keine Möwe mehr – sondern bloß eine handfeste Meise. (Ronald Pohl, 29.3.2024)