Die Volkspartei will also die "österreichische Leitkultur" definieren. Die bisher genannten Namen des Expertengremiums deuten darauf hin, dass es sich bei diesen Expertinnen und Experten primär um Sympathisantinnen und Sympathisanten der Volkspartei handelt. Dass eine politische Partei die Leitkultur des Landes definieren will, ist gefährlich und anmaßend.

Ministerin Raab
ÖVP-Integrationsministerin Susanne Raab, von einem Bundeskanzleramt-Fotografen abgelichtet,versammelt eine Expertenrunde um sich. Ihr Ziel: die Werte für das Zusammenleben in Österreich zu definieren.
Foto: APA / Bundeskanzleramt / Christopher Dunker

Was ist "Kultur" überhaupt? Das ist gar nicht so leicht zu definieren. Allein in der Sozial- und Kulturanthropologie, also jener Wissenschaftsdisziplin, deren Forschungsgegenstand Kultur ist, gibt es mehr als 300 verschiedene Begriffsdefinitionen. Eine recht gängige lautet etwa: "Kultur ist die Summe an Werten und Grundannahmen sowie Mustern im Verhalten, Wahrnehmen und Bewerten, die eine Gruppe von Menschen teilt, sowie alles Manifeste ('Gegenständliche'), das daraus hervorgeht." Damit hat (oder ist) jede Gruppe, die gemeinsame Muster in Verhalten und Wahrnehmen hat, eine eigene Kultur. Jeder Freundeskreis, jede Familie, Organisation, Generation, Region oder Berufsgruppe.

In dem Moment, wo sich eine Gruppe zu formieren beginnt und sich selbst als Gruppe wahrnimmt, also zwischen sich selbst und dem Rest der Welt eine Unterscheidung trifft, beginnt sie, gemeinsame Kulturmuster, etwa für Sprache und Kleidung, zu entwickeln. Nationalkultur ist damit sehr heterogen.

Norm für alle

Aber Kultur ist nicht nur heterogen. Sie verändert sich auch ständig. Die "österreichische Kultur" von heute ist eine andere als jene der 1980er-Jahre. Was damals als "normal" oder "üblich" galt, ist es heute nicht mehr. Geschlechterrollen, Sprache oder die Bedeutung vieler Rituale haben sich deutlich verändert.

Eine "Leitkultur" beschreibt, wie Kultur "sein soll", nicht, wie sie tatsächlich ist. Eine solche Definition sollte daher von keiner politischen Gruppierung vorgenommen werden, egal welcher. Denn Kultur ist ein Orientierungssystem. Es ist wie ein Set aus Spielregeln, an die sich die Mitglieder einer Gruppe generell halten, auch wenn diese Regeln meist weder bewusst entschieden noch explizit sind. Diese Regeln explizit zu definieren ist eine Machtfrage. Wird eine solche Definition von einer einzelnen Gruppe vorgenommen, kann nichts anderes dabei herauskommen als die Beschreibung einer Mehrheitskultur, die die vielen Subkulturen ignoriert. Oder noch schlimmer: Die beschreibende Gruppe erklärt ihre eigenen Werte und Muster zur Norm für alle.

"Wir alle unterliegen 'Ethnozentrismen', halten also die eigene (Sub-)Kultur für 'normal', andere für 'abnormal'."

Würde man tatsächlich eine Definition einer österreichischen Leitkultur vornehmen wollen, so müsste dies aus einer neutralen Perspektive in Bezug auf gesellschaftliche Gruppen erfolgen. Das kann jedoch keine einzelne Teilgruppe leisten. Wir alle unterliegen "Ethnozentrismen", halten also die eigene (Sub-)Kultur für "normal", andere für "abnormal". Wir können gar nicht anders auf Kultur sehen als durch unsere eigene kulturelle Brille.

Subkultur ÖVP

Eine politische Partei ist darüber hinaus aber auch noch eine Interessenvertretung für bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Sie spiegelt damit deren Perspektive wider, ist selbst eine Subkultur. Noch dazu eine, die sich selbst stark über Werte, über richtig und falsch, definiert. Eine politische Gruppierung wird nie in der Lage sein, die Werte und Annahmen der anderen Subkulturen wertfrei und nicht durch die Brille der eigenen Werte zu sehen. Auch die Klimabewegung, eine deutschnationale Burschenschaft oder die Sozialistische Jugend sollten keine österreichische "Leitkultur" definieren. Das könnten sie gar nicht. Genauso wenig wie die ÖVP und ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten.

Was die ÖVP unter Führung von Integrationsministerin Susanne Raab also produzieren wird, ist eine ÖVP-Leitkultur, die dann für alle Menschen in Österreich normative Wirkung haben soll. Und allein die Tatsache, dass sie das nicht sieht und sich selbst anmaßt, das zu können, zeigt, wie völlig ungeeignet die ÖVP ist, so etwas zu tun.

Nur ein Bürgerrat

Was aber, wenn man überzeugt ist, eine Definition einer österreichischen Leitkultur zu brauchen? Wer könnte so etwas machen, wenn eine politische Partei es nicht kann? Am ehesten könnte man dies wohl in einem großen Bürgerinnen- und Bürgerrat erarbeiten. Dieser müsste aber so viele Subkulturen wie möglich abbilden, also alle politischen Spektren, Generationen, religiösen Gruppen, Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Berufen, sexuellen Orientierungen, Einkommen und Werten.

Eine solche repräsentative Auswahl, die durch ihre Zusammensetzung als Mikrokosmos gewissermaßen die "DNA der österreichischen Kultur" abbildet, könnte sich dann unter Anleitung von Expertinnen und Experten etwa die Fragen stellen: Was haben wir alle gemeinsam? Worin bestehen elementare Basiskompromisse und gemeinsame Muster? Nicht dass ich dafür eine Notwendigkeit sehe. Aber wenn, dann müsste auch die Definition einer Leitkultur aus dem Ganzen entstehen.

Dieses Vorhaben der ÖVP ist also eine unfassbare Anmaßung, brandgefährlich und übergriffig. Österreich ist nicht die Volkspartei, und die Volkspartei hat daher nicht zu definieren, was ganz Österreich als soziales System im Kern ausmacht. (Johannes Köpl, 29.3.2024)