Kind, Ukraine-Flagge, zerstörtes Kunstzentrum
Auch wenn Schulen und Universitäten in Schutt und Asche liegen –ukrainische Forschende wollen nicht aufgeben und tun alles, um die Ausbildung junger Menschen und Forschungsprojekte im Krieg aufrechtzuerhalten.
APA/AFP/SERGEY BOBOK

Seit über zwei Jahren herrscht in der Ukraine Krieg. Hunderttausende Menschen sind geflohen oder mussten zur Verteidigung des Landes einrücken. Viele haben in Kampfhandlungen ihr Leben verloren. Für Forschende waren schon die Jahre vor Kriegsausbruch keine einfache Zeit. Seit der russischen Invasion haben sich die Bedingungen der wissenschaftlichen Einrichtungen im ganzen Land aber noch einmal dramatisch verschlechtert. So auch in Kiew. Doch die lokale Forschungscommunity bleibt weiterhin aktiv.

Die Bedingungen sind allerdings mehr als schwierig. Forschungs- und Bildungseinrichtungen verzeichnen schwere Verwüstungen und sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen, denn staatliche Subventionen verfallen knapper denn je. Fonds, die eigentlich zur Finanzierung der Wissenschaft und Unterstützung von Forschungsgruppen gedacht waren, wurden aufgrund des "großen Krieges", wie Olena Skyrta den bewaffneten Angriff Russlands auf die Ukraine nennt, eingefroren.

Geld an Militär statt Unis

Skyrta ist Gründerin von Inscience ­– einer gemeinnützigen Organisation zur Förderung der Wissenschaft in der Ukraine. "Das Geld wurde dem Militär zur Verteidigung gegeben", zeigt sie einerseits Verständnis. Doch auch während Kriegszeiten sei es von großer Bedeutung, die Finanzierung der Wissenschaft aufrechtzuerhalten. Zur Wiederherstellung der Infrastruktur fehlt etwa dem Institute of Single Crystals der Nationalen Akademie der Wissenschaften in der Ukraine Ausrüstung im Wert von 100.000 Hrywnja (2.400 Euro). Das Institut befindet sich im stark unter Beschuss geratenen Charkiw und ist eines von vielen, die die Plattform scienceatrisk.org erfasst hat.

Irpin Technische Universität
Auch die Technische Universität in Irpin in der Ukraine wurde stark in Mitleidenschaft gezogen.
IMAGO/ZUMA Press

Eine gewisse Unterstützung für diese schwierige Zeit bieten Förderprogramme, die im Ausland ins Leben gerufen wurden. "Es gibt zahlreiche Stipendien für ukrainische Wissenschafterinnen und Wissenschafter oder Möglichkeiten, im Ausland eine Anstellung an Universitäten zu finden", erzählt Skyrta. In Österreich etwa bot schon kurz nach Kriegsbeginn die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ein Notfallprogramm an. Knapp 100 ukrainische Forschende erhielten damals eine Förderung und einen Forschungsaufenthalt. Dank Unterstützung der Stadt Wien kann eine Anschlussfinanzierung für Forschende angeboten werden, die im Rahmen des Programms JESH in Wien waren.

Diese Form der Unterstützung ukrainischer Forschungsaktivitäten durch die ÖAW oder andere Einrichtungen helfen den betroffenen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern zwar. Dennoch solle man nicht außer Acht lassen, dass es auch in der Ukraine viele Forschende gebe, die immer noch an der Nationalen Akademie oder an anderen Universitäten beschäftigt seien und ihren Lebensunterhalt verdienen müssten. "Bedauerlicherweise ist die Lage prekär", berichtet Skyrta.

Problem der Emigration und Flucht

Die hohe Auswanderungsrate von wissenschaftlichen Fachkräften ist eine Folge davon. Schon lange vor dem Krieg hatte sich die Emigrationsdynamik in der Ukraine verstärkt. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Unabhängigkeitserklärung 1991 führten zur Instabilität der Wirtschaftslage. Der Mangel an aussichtsreichen Perspektiven und die spärliche Ausstattung der Forschung waren auch zu Skyrtas Studienzeit präsent: "Eigentlich wollte ich Biotechnologin werden. Durch das Studium hatte ich Zugang zu Laboren und anderen Forschungseinrichtungen. Die Bedingungen waren wirklich bescheiden."

Olena Skyrta Inscience Gründerin
Olena Skyrta gründete die ukrainische Plattform Inscience.
Inscience

Das war auch der Anlass für die Gründung der Plattform Inscience, die sich inzwischen zu einer Dachorganisation entwickelt hat und diverse Förderinitiativen beherbergt. Trotz Kriegszustands gelang es im Juni 2023 auch, eine mehrtägige Konferenz in Kiew zu organisieren und abzuhalten. Im Fokus standen naturwissenschaftliche Themen von Biologie bis Medizin, aber auch neue Technologien wie künstliche Intelligenz und Weltraumforschung. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind diese zwei Bereiche auch die größten Forschungsexporte der Ukraine. DER STANDARD hat sich zwei Projekte davon genauer angesehen.

Anima: KI gegen Traumata

Anima ist ein Projekt, dessen Wurzeln in die Vorkriegszeit zurückreichen. Da entdeckten der Neurowissenschafter Sergiy Danylov und der Marketeer Roman Havrysh ihre gemeinsame Begeisterung für künstliche Intelligenz und Eye-Tracking. Ihr Ziel war es, durch die Beobachtung des menschlichen Blickes psychologische Muster und Verhaltensweisen zu identifizieren. Havrysh: "Wir haben an einem Projekt zum Testen der Lesefähigkeit gearbeitet. Wir können während des Lesens eines Textes relativ genau vorhersagen, woran sich die Person später erinnern wird. Das würde die schulische Bewertung und Tests obsolet machen."

Der Krieg in der Ukraine hat den Schwerpunkt verschoben. In den vergangenen Jahren hat das Land viel Schrecken erfahren. Menschen, vor allem diejenigen an der Front, erleiden enormen psychischen Stress. Sie kämpfen mit Angstzuständen, Depressionen, Traumata und anderen Belastungen, die durch die Kriegssituation ausgelöst wurde. Anima soll eine nichtinvasive Früherkennung und Überwachung des psychischen Zustands dieser Menschen ermöglichen.

Kaputtes Labor Charkiw Ukraine
In Charkiw stehen Forschende inmitten zerstörter Laboratorien und Lehrsäle. Der Wiederaufbau wird Jahre dauern.
IMAGO/Ukrinform

Der Vorgang: Eine Webcam erfasst das Sichtfeld des Nutzers, das sie in aufeinanderfolgenden Bildern aufzeichnet. Mithilfe künstlicher Intelligenz werden die individuellen Pupillenbewegungen genau erfasst und ein Muster erlernt, anhand dessen überaus präzise Vorhersagen getroffen werden können. Die gesammelten Eye-Tracking-Daten werden mit validierten psychologischen Screeningtests kombiniert, um daraus möglichst genau den mentalen Zustand abzuleiten. So trägt diese Methode dazu bei, die Schwächen herkömmlicher, subjektiver Selbstberichte zu überwinden – und ermöglicht so ein objektiveres Gutachten der Psyche.

Anima ist für die breite Masse zugänglich. Ein Einsatzbereich konzentriert sich auf Militärkrankenhäuser, um den mentalen Zustand von Kriegsversehrten hinsichtlich Angstzuständen und Depressionen zu überwachen. Auch werden derzeit Technologien zur Erkennung von Gehirnerschütterungen entwickelt, erzählt Danylov: "Für viele Armeedivisionen stellen Hirntraumata und Gehirnerschütterungen ein ernsthaftes Problem dar. Rechtzeitiges Erkennen und Eingreifen können potenziell schädliche langfristige Auswirkungen auf die psychische Gesundheit verhindern."

Promin Aerospace: Raketenantrieb

Die Ingenieure und Entrepreneure Misha Rudominsky und Vitaliy Yemets ließen sich durch geopolitische Spannungen und finanzielle Engpässe ebenfalls nicht von ihren Forschungsarbeiten abbringen. 2021 gründeten sie gemeinsam Promin Aerospace, ein Forschungsunternehmen mit der visionären Mission, der Menschheit den Weg zur interplanetaren Spezies zu ebnen. Das größte Hindernis auf diesem Weg sind laut Rudominsky die hohen Kosten eines Raketenstarts. "Wir müssen die Kosten pro Kilogramm Nutzlast um 99 Prozent senken. Es sollten lediglich zehn Dollar pro Kilogramm anfallen. Daran arbeiten wir bei Promin Aerospace."

Das Herzstück von Promin Aerospace ist eine Raketenantriebstechnologie, die mit dem Begriff "Autophagie" umschrieben wird. Dieser stammt aus der Biologie und beschreibt, wie Organismen Teile von sich selbst verzehren. Das Prinzip spiegelt sich in gewisser Weise in der Raketenantriebstechnologie wider. "Traditionelle Raketen verwenden mehrere Stufen, um sich von ungenutzter Masse zu befreien, jedoch sollte dieser Prozess idealerweise kontinuierlich ablaufen. Um die Effizienz zu steigern, haben wir eine Methode entwickelt, bei der die Raketenstruktur während des Fluges verbrannt wird", erklärt Rudominsky.

Raketentechnologie Antrieb Promin Aerospace
Promin Aerospace will die Raumfahrt günstiger machen.
Promin Aerospace

Die Technologie wurde bereits erfolgreich in Labortests im südöstlichen Dnipro in der Ukraine getestet. Echte Flugtests in Schottland sind geplant, jedoch wird dies noch mindestens zwölf Monate dauern, da schlicht die notwendige Finanzierung fehlt. Der Krieg hat also auch in diesem Fall die Ressourcen für Forschung und Entwicklung stark eingeschränkt. Der Verlust von Fachkräften, sei es freiwillig, um mit ihren Familien vor dem Konflikt ins Ausland zu fliehen, oder unfreiwillig aufgrund von finanziellen Einschränkungen, stellt eine Herausforderung für das Unternehmen dar.

Besonders die Beschaffung von finanziellen Mitteln wird durch die Spannungen erschwert. So ist Promin Aerospace stark auf die Privatwirtschaft angewiesen. Google war an einer bedeutsamen Investition beteiligt. Dem Firmengründer ist es wichtig zu betonen, dass das Unternehmen zu hundert Prozent in ukrainischer Hand sei. Internationalen Investoren stehe man aber offen gegenüber. Das sei auch ein wesentlicher Unterschied zu vergleichbaren russischen Unternehmungen. In Russland herrsche das Credo: "Wir machen einfach unser Ding, niemand darf sehen, was wir tun."

Russland als gemeinsamer Feind

Rudominskys ablehnende Haltung Russland gegenüber zieht sich wie ein roter Faden durch das Gespräch mit dem STANDARD. Schon früher habe es kaum Kooperationen mit russischen Firmen gegeben, beteuert er: "In keiner meiner Unternehmungen habe ich je mit Russland zusammengearbeitet. Aktuell würde ich nicht einmal mit einer Firma zusammenarbeiten, in der russische Angestellte tätig sind."

Er ist davon überzeugt, dass die Existenz Russlands in seiner aktuellen Form eine anhaltende Bedrohung darstellt. Russland möge einst eine Supermacht gewesen sein, heute aber nicht mehr. Zur Kompensation würden die Nachbarländer Ukraine, Georgien, Tschetschenien und Dagestan mit Atomwaffen bedroht. "Und ich spreche hier nur von den letzten 30 Jahren. Ohne Russland wäre die Welt sicherer."

In der Ukraine hat sich eine Russophobie ausgebreitet, die in gewissem Sinne eine einende Wirkung auf die Nation hat. Es besteht eine Tendenz unter den in der Ukraine Verbliebenen, sich stark für die eigene nationale Identität einzusetzen – von Russland gelöst, mit Akzentuierung auf den ukrainischen Beitrag. Auch wird auf die Rückkehr kluger Köpfe gehofft, die aufgrund der Kriegswirren ins Ausland gegangen sind. "Es hat schon immer eine Art Auswanderung intelligenter Menschen in Länder gegeben, in denen sie ein stabileres und besser bezahltes Leben führen können. Nach der großen Invasion werde ich jedoch einige Leute zurückholen", hofft Rudominsky auf eine Ära nach dem Krieg. (Julia Dvorin, 2.4.2024)