Der arme Josef K. gerät ins Mahlwerk einer übermächtigen, komplett anonymen Justiz: Im Bild Anthony Perkins in der Rolle des Kafka'schen Helden – in der berühmten "Process"-Verfilmung von Orson Welles (1962).
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Es ist der weltberühmte erste Satz, der die Aufmerksamkeit sofort fesselt. Er hinterlässt noch im Franz-Kafka-Gedenkjahr 2024 denselben frappierenden Eindruck wie 1925. Damals wurde die Process-Erstausgabe ein Jahr nach Kafkas Tod von Max Brod publiziert. "Jemand musste Josef K. verläumdet (sic!) haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet."

Die Feststellung der Unschuld K.s hat Generationen von Lesern vor den Kopf geschlagen. Durch sie wurde ein seit langem genährter Verdacht unheilvoll bestätigt: Den modernen, gesichtslosen Menschen, die allein schon wegen ihrer Anonymität nichts Schlimmes verbrochen haben können, widerfährt bitteres Unrecht. Eine unerforschliche Maschinerie, der ein Heer minderer Bürokraten zuarbeitet, vergreift sich am wehrlosen Einzelnen.

Die Neuausgabe von Der Process, herausgegeben und kommentiert vom maßgeblichen Kafka-Forscher Reiner Stach, erstattet diesem Schlüsselwerk des 20. Jahrhundert sein Geheimnis zurück. Stach geizt nicht mit Proben stupender Deutungskunst. Wie ein erfahrener Flussschiffer folgt Stach dem Strom der Process-Kapitel: Er liest Sätze und Sentenzen von der Erzähloberfläche und hält sie anschließend ins Licht philologischer Erkenntnis.

Zuletzt war Kafka, der Prager Versicherungsbeamte mit dem Spleen eines Eigenbrötlers, zu unser aller "Franz" geworden. Die soeben ausgestrahlte ORF/ARD-Serie Kafka basierte gewiss nicht zufällig auf Reiner Stachs dreiteiliger, unendlich detailreicher Biografie.

Jedes Nüsschen einzeln

David Schalkos und Daniel Kehlmanns Titelheld geizte im Patschenkino nicht mit Proben höherer Ironie. Zur staunenden Betrachtung freigegeben wurde ein gnomischer Sonderling. Der kaute jedes Nüsschen so lange mit den Vorderzähnen, bis es zu Staub zermahlen war. Als Zuschauer teilte man umgehend den Fluchtimpuls, der Felice Bauer, Kafkas Verlobte, vor dem absonderlichen Kauz schmählich Reißaus nehmen ließ.

Felice Bauer spielt bekanntlich auch im Process eine zentrale Rolle. Sie bildet als "Fräulein Bürstner" den natürlichen erotischen Anziehungspunkt einer moralisch unbedenklichen, jedoch kaum verdammungswürdigen Figur. Josef K. ist eine höhere Bürokraft mit erstaunlich geringer Problemlösekraft. Als Junggeselle mit chaotischem Innenleben gerät er in die Fänge der Justiz. Deren gravierendster Nachteil: Sie gibt sich niemals in ihrer Gesamtheit zu erkennen. Proben ihrer Gesetzeskraft werden Angeklagten wie K. nur sporadisch zuteil.

Man traktiert den Armen so lange, bis alle Kräfte erloschen sind. Auf seinem Weg in den Untergang wird er von den Vertretern des Gerichts, meist schäbigen Bütteln und Wichtigtuern, mit allerlei systemischen Hinweisen bedacht. K. lässt den Vollzug der Todesstrafe – man ersticht ihn "wie einen Hund" – widerstandslos über sich ergehen.

Doch Kafkas Romanfragment Der Process ist mehr als bloß ein Gerichtsthriller, vollgepackt mit Rätseln, durchsetzt von Leerstellen. Den Text verfasste der Prager Versicherungsbeamte in quälenden nächtlichen Sitzungen vom Sommer 1914 an. Anfang 1915 war der Inspirationsspuk zerstoben.

Eine Perspektive

Die von Stach gewählte Textgestalt folgt jetzt den beiden Ausgaben aus den 1990er-Jahren. Wie am Schnürchen einer Beweiskette sammelt der Frankfurter Germanist Hinweise auf Kafkas ingeniöse narrative Strategie. Der Autor beschränkt sich auf die Perspektive des Protagonisten.

Der Leser? Bewegt sich einzig und allein im Wahrnehmungsbereich Josef K.s. Er muss mit der Verengung von dessen Blickwinkel vorliebnehmen. Kein Wunder also, dass kein Leser jemals die allerhöchsten Gerichtsinstanzen mit eigenen Augen zu Gesicht bekommt.

Aufgewogen wird Kafkas "einsinniges Erzählen" durch eine Fülle von Hinweisen und Signalen: Sie hält der Autor sorgfältig unter der Oberfläche versteckt. Sie enthüllen für Augenblicke die widersprüchliche Struktur K.s.: seine erotische Unersättlichkeit, seinen opportunistischen Umgang mit allen Sendboten des Gerichts.

Instinktiv wusste Kafka über die Struktur des Unbewussten Bescheid. Vorsichtig verweist Stach auf Elemente der Traumlogik – und enthüllt das Wesen eines immerwährenden Gerichtsgeschehens, das sich vornehmlich im Kopf aller "K.s" (K. wie Kafka) abspielt.

Wofür auch Reiner Stach keine Erklärung gefunden hat: Franz Kafkas Beistrichsetzung ist – nicht nur aus heutiger Sicht – bestürzend sparsam. Es scheint so, als habe die Materialstelle der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung an akuter Komma-Knappheit gelitten. (Ronald Pohl, 29.3.2024)