André Heller hat wieder einmal gesungen, hier im Duett mit Ursula Strauss.
André Heller hat wieder einmal gesungen, hier im Duett mit Ursula Strauss.
Daniel Dittus

"Fremd ist der Fremde nur in der Fremde." Dieses Zitat von Carl Valentin war André Heller Ausgangspunkt einer musikalischen Expedition durch unterschiedlichste Genres: von Jazz, Klassik, Klezmer, Gospel, Blues, Pop, Weltmusik bis zum Wienerlied. Auf Einladung der Hamburger Elbphilharmonie kreierte der Wiener Universalkünstler eine Melange sinnlicher Reflexion, bestehend aus Konzerten, Diskussionen, Filmen, Gesprächen und Interventionen.

"Staunen. Dankbarkeit. Sinnlichkeit. Schönheit. Freude. Glück. Liebe" projizierte Heller während der Dämmerung und in den Nachtstunden in Riesenlettern an die Fassade der "Elphie"; wohl als bewusste Referenz an das pazifistische Statement, dass die Brücke, über die man das an einen Schiffsrumpf erinnernde Konzerthaus erreicht, nach Mahatma Gandhi benannt ist.

Auf Einladung Hellers gastierten Jimmy Webb, die Brooklyn Cantors, Andrea Eckert, Peter Sloterdijk, Florian Boesch, Harry Stojka, Robert Rotifer, Camilla Nylund, Angelique Kidjo, die Hamburger Camerata, Christian Reif und Florian Sitzmann, der exzentrische Chor brüllender Finnen sowie sephardische und maghrebinische Stimmen. Am 22. März stimmte der Soweto Gospel Choir Heller zu Ehren ein Happy Birthday an. Der Gastintendant beging an diesem Tag nämlich seinen 77. Geburtstag.

"Die Besten aus Wien"

Das Abschlusskonzert des ausverkauften Festivals war unter dem Titel "Die Besten aus Wien" angekündigt – im Programm: Ernst Molden, Voodoo Jürgens, der Nino aus Wien, Marco Wanda, die Neuen Wiener Concert Schrammeln, Anna Mabo, Tini Kainrath, Ursula Strauss und das Wiener Frauenorchester. Manch einer hatte beim Kauf der Tickets gehofft, Heller würde vielleicht zum Schluss das eine oder andere Lied selber singen. De facto wurde der Abend aber – nach 42 Jahren Bühnenabstinenz – sogar zu einem Überraschungskonzert Hellers mit einer Art All-Star-Band.

Der Abend begann, wie sämtliche Veranstaltungen der Festivalwoche, mit André Heller als Conférencier, der mit Schnurren aus seiner Kindheit seinen Zugang zur Musik erklärte, über sein Rütteln am väterlichen Watschenbaum sprach oder über die Einführung in den Wiener Dialekt. Später übernahm Ernst Molden die Rolle des Moderators und Bandleaders. Spätestens bei seinen Songs oder jenen von Voodoo Jürgens stellte man sich die Frage, ob bei Dialektausdrücken wie "scheanglade Pissoir-Forölln", "Potschochter", "Hawara", "Oaschkappl", "Gfrast" oder "Pompfüneberer" für die Hanseaten nicht doch Untertitel zum Verständnis des "Fremden" hilfreich gewesen wären. Aber "Abara kadabara", Musik verbindet. Wiener Charme funktioniert, Schmäh ohne.

Marco Wanda brillierte, sein Rockstar-Dasein ignorierend, als Interpret 80 Jahre alter Wienerlieder, die Hinterfotzigkeit und bigotte Verlogenheit der Österreicher thematisierend. Für ein Duett mit Voodoo Jürgens betrat André Heller, nach 42 Jahren Abstinenz, dann wieder die Konzertbühne. Die beiden beglückten mit einer Neuinterpretation des im Original mit Helmut Qualtinger vor Jahrzehnten intonierten Wean, du bist a Taschnfeitl. Auf ana G’stättn aus Marzipan ging es weiter, Heller erinnerte an Momente des Glücks und des Wahnsinns, verließ die immer voller werdende Bühne nicht mehr, lauschte konzentriert diversen Soloparts, Moritaten und musikalischen Viennoiserien. Auch mit Schauspielerin Ursula Strauss im Duett erhob er dann die Stimme: Kumm ma mit kane Ausreden mehr.

Lindenberg auf Wienerisch

Nach einer kurzen Pause gelang der Zaubertrick, Hamburg ins Boot zu holen, durch Moldens ins Wienerische übertragene Version des Udo-Lindenberg-Songs Ich lieb Dich überhaupt nicht mehr und der Reeperbahn-Hymne La Paloma, die bei Nino aus Wien in göttlicher Verweigerung zu Auf de Wiener-oje mutierte. Stimmig fügten sich die Performance von Anna Mabo und das kraftvoll-sensible Spiel des Wiener Frauenorchesters ein. Ständige Begleiter des selten homogenen Ensembles: die virtuosen Concert-Schrammeln.

Zu einem Kollektiv der Apnoetaucher, die erst nach dem letzten Ton wieder atmeten, mutierte das Auditorium bei Hellers Performance des originär für Oscar Werner komponierten Chansons Rotunde, und bei seiner Hommage an das Jiddische Milners Trern. Standing Ovations gab es für das berührend von Heller und Kainrath im Duett gesungene Waun i amoi stiab. Ein würdiges Finale war, als der ganze Große Saal in die erste Strophe von Für immer jung einstimmte: "Di soll's geben, solang's die Wöd gibt, und die Wöd soll's immer geben". Nach drei Stunden: Applaus. Abgang. Adieu. Auch auf Mahatma Gandhis Brücke legte der Sturm eine nächtliche Pause ein. Ein Triumph? Nein, vielmehr, in aller Demut, ein beseeltes Hochamt. (Gregor Auenhammer, 28.3.2024)