Wegen seiner oppositionellen Haltung zu Putin wurde Kirill Serebrennikow jahrelang von der russischen Justiz verfolgt. Mittlerweile lebt er in Deutschland. Im Mai gastiert er bei den Wiener Festwochen.
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Kirill Serebrennikow ist Videoschaltungen gewöhnt. Als er noch in Russland lebte und vom Putin-Regime drangsaliert wurde, lieferte er Inszenierungen per Skype und E-Mail. Inzwischen lebt er in Deutschland und hat am Hamburger Thalia-Theater eine künstlerische Heimat gefunden. Das Gespräch über Zoom ist entspannt, aber man spürt noch etwas von der konspirativen Energie, ohne die es Kunst in und aus Russland derzeit nicht gibt. Ab 19. Mai gastiert Serebrennikow mit dem Stück Barocco bei den Wiener Festwochen. Premiere hatte es 2023 am Hamburger Thalia Theater, wo es ebenfalls noch bis Mai läuft.

STANDARD: Herr Serebrennikow, wie kam das Stück Barocco zustande?

Serebrennikow: Es begann 2018 in Russland. Ich war unter Hausarrest und dachte über die nächste Aufführung für das Gogol Center nach, das inzwischen geschlossen ist. Mir schwebte etwas Musikalisches vor, ein Pasticcio. Und ich schrieb ein Stück über Freiheit und über Menschen, die dafür ihr Leben aufs Spiel setzen. Der Begriff Barock bedeutet wörtlich eine Perle mit unregelmäßiger Form. Menschen, die gegen das System oder die Macht handeln, erinnern auch an etwas Ungewöhnliches, Unregelmäßiges. Wir haben uns auf Geschichten von Menschen gestützt, die sich selbst verbrannt oder Selbstmord begangen haben, um ein Zeichen zu setzen.

STANDARD: 2022 haben Sie Russland verlassen. Barocco haben Sie mitgebracht.

Serebrennikow: Als ich in Hamburg am Thalia zu arbeiten begann, wurde ich eingeladen, eine Wiederaufnahme zu machen, nachdem der Intendant Joachim Lux die Produktion in Moskau gesehen hatte. Es war ziemlich kompliziert. Das Gute war, dass wir ein paar Schauspieler zur Verfügung hatten, weil sie auch im Exil sind. Nadeschda Pawlowa, eine herausragende Sängerin, ein Weltstar der Oper, die mit Castellucci in Salzburg den Don Giovanni gemacht hat, übernimmt in unserer Aufführung sowohl Schauspiel- als auch Gesangspartien. Ihr Rameau ist etwas Unglaubliches. Diese Produktion hat uns vor der Depression bewahrt.

Thalia Theater

STANDARD: Haben Sie den Krieg vorausgesehen?

Serebrennikow: Am Tag vor dem Angriff trafen wir uns mit Freunden, und alle sagten, das sei nicht möglich. Wie kann jemand im 21. Jahrhundert einen Krieg anfangen? Putin will nur seine Macht demonstrieren und andere Politiker beeindrucken. Und am nächsten Tag ging es los. Das war der größte Schock in meinem Leben.

STANDARD: Sie hatten eine Menge Probleme mit dem Regime. Wie blicken Sie jetzt auf diese Zeit der Verfolgung zurück?

Serebrennikow: Ich möchte meine Probleme nicht hervorheben. Meine strafrechtliche Verfolgung war der erste Prüfstein. Die russische Macht beschloss, die Künstler zu bestrafen, aber sie wussten nicht so recht, wie sie es anstellen sollten. Deshalb haben sie all diese finanziellen Anschuldigungen gegen mich erhoben. Jetzt hat Russland Dutzende von neuen monströsen Gesetzen verabschiedet. Menschen können schon für eine einzige Bemerkung im Internet oder für gar nichts ins Gefängnis kommen. Die Zahl der politischen Gefangenen ist höher als in der Sowjetunion, zumindest vor deren Zusammenbruch.

STANDARD: Hatten Sie jemals Kontakt zu Nawalny oder seiner Gruppe?

Serebrennikow: Er kam in unser Theater, als wir anfingen. Es war ein Stück über einen jungen Revolutionär mit dem Titel Otmorozki. Ich erinnere mich an sein Gesicht beim Applaus, er war ziemlich begeistert. Das war das einzige Mal, dass ich ihn im Publikum sah. Am Tag nach seinem Besuch in unserem Theater begann einer der ersten Prozesse, die zu seiner Verhaftung führten. Seine verzweifelte Rückkehr in ein Land, in dem ihm das Gefängnis sicher war, ist eine Heldentat. Er wurde absichtlich an einem Ort in Haft gehalten, wo ein Überleben unmöglich war. Sein Tod war für Hunderttausende von Menschen ein Schock. Julija, seine Frau, setzt seinen politischen Kampf fort. Sie ist eine sehr starke Frau.

STANDARD: Sie wuchsen noch in der Sowjetunion auf. Wie wurden Sie zum Künstler?

Serebrennikow: Ich begann die Welt um mich herum zu verstehen, als ich ein Teenager wurde. Die Sowjetunion war bereits am Zusammenbrechen, und die Perestrojka hatte begonnen. Ich bin ein Kind der Perestrojka. Diese Zeit ist heute in Russland verhasst oder sogar verboten. Die Propaganda erweckt bei den Menschen den Eindruck, dass die 90er-Jahre die schlimmsten in der russischen Geschichte waren. Tatsächlich aber war es eine Zeit des geistigen Aufbruchs. Jedes Jahr fuhr ich einmal weg und sparte Geld für diese Reisen nach Großbritannien, Amsterdam, Frankreich. Die 90er-Jahre waren wirtschaftlich sehr hart, aber es war eine Zeit der Freiheit. Wir hatten Glück, wir fanden Hoffnung. Das Leben war schwierig, aber wir dachten, dass es bald besser werden würde.

STANDARD: Gab es schon vor Putin einen Wendepunkt?

Serebrennikow: Es war der Moment, als Jelzin 1993 auf das Parlament schießen ließ. Wir mochten die Leute, die uns im Parlament vertraten, nicht, sie schienen Teil der konservativen Vergangenheit zu sein, von der wir uns schnell lösen wollten, aber gleichzeitig verstanden wir, dass es nicht gut ist, so mit seinen politischen Gegnern umzugehen. Wir jungen Liberalen wollten das sowjetische System nicht zerstören, sondern ein neues aufbauen, das einfach stärker und vielversprechender sein würde. Die alte Welt wird von selbst verschwinden, dachten wir. Das war ein großer und fataler Irrtum. Die Leute, die keine Veränderungen wollten, die wollten, dass Russland eine Festung gegen die ganze Welt ist, und die das Sowjetsystem wiederaufbauen wollten, haben den Lauf der Geschichte verändert. Sie haben das Land in die Vergangenheit zurückgebracht, dorthin, wo sie selbst sicherer sind und zuverlässiger die Macht und den Öl- und Gasreichtum behalten können.

STANDARD: Sie arbeiten für die Bühne, machen aber auch Filme. Wie steht es derzeit um Ihre Kinoprojekte?

Serebrennikow: Im Moment arbeite ich gleichzeitig an zwei Filmen. Einer ist Limonow, die Ballade nach dem Buch von Emmanuel Carrère, der andere ist Das Verschwinden über Mengele nach dem Buch von Olivier Guez. Zwei Filme parallel zu drehen ist purer Wahnsinn, aber das ist alles dem Krieg geschuldet. Wir konnten Limonow nicht fertigstellen und mussten in Europa damit weitermachen, einige Sets neu bauen. Jetzt sind beide Filme in der Postproduktion und warten darauf, in die Kinos zu kommen.

STANDARD: Was würden Sie Menschen aus der Ukraine antworten, die darauf drängen, jegliche Zusammenarbeit mit Künstlern aus Russland auszusetzen? Also auch mit oppositionellen? Sie dürften dann zum Beispiel nicht nach Cannes eingeladen werden.

Serebrennikow: Wahrscheinlich werde ich gar nicht antworten. Ich verstehe ihre enorme Wut, denn ihre Situation ist schrecklich. Aber gleichzeitig funktionieren Verbote und Einschränkungen in freien Gesellschaften nicht. Vor allem, wenn es diejenigen betrifft, die sich strikt gegen diesen Krieg stellen, die gegen die militärische Aggression kämpfen und gezwungen werden, ihr Land zu verlassen.

STANDARD: Wie wird Putin enden? Sie sind kein Prophet, aber Sie haben einen Sinn für Dramaturgie.

Serebrennikow: Ich möchte nicht über den Tod von Menschen nachdenken, auch nicht über den von Diktatoren und Kriegsherren. Das funktioniert nicht. In der Geschichte gab es viele Diktatoren, die ein langes Leben hatten und in ihren Betten starben. Putin hat eine sehr dunkle Geschichte in Europa begonnen. Dieser Krieg ist schrecklich für Europa, tödlich für die Ukraine und selbstmörderisch für Russland. (Bert Rebhandl, 28.3.2024)