Pohl Kolumne
Die große Volksschauspielerin Dolores Schmidinger hat auf das Problem akustischer Übergriffigkeit nachdrücklich hingewiesen: Gebrüll ist eine Form von Gewalt.
Regine Hendrich

Viel ist heute von Machtmissbrauch die Rede, wenn auf die Bezirke von Kunst und Gewerbe geblickt wird. Zuletzt ließ Mimin Dolores Schmidinger im STANDARD die Öffentlichkeit an Gewalterfahrungen teilhaben. Sie berichtete unter anderem von der Zunge eines Volksschauspielers, die sich – ohne darum gebeten worden zu sein – in ihr Ohr vertiefte. Man spricht bei inspirierten Menschen zwar manchmal vom "Reden in Zungen". Aber es ist verständlich, dass die junge Frau Schmidinger ob solch skandalöser Zudringlichkeit keineswegs dachte, sie sei eines Pfingstwunders teilhaftig geworden.

Schmidingers berührender Rechenschaftsbericht glich einer Rückschau auf sanktionierte Rüpeleien. Sie wies auf eine weitere Gewaltkomponente hin: Viele Regisseure und Spielvögte pflegen bis heute die Unart, ihre Schutzbefohlenen "fertigzumachen", sie aus den geringfügigsten Anlässen in Grund und Boden zu brüllen.

Jeder Zeitzeuge der Ära Kreisky wird diese Beobachtung bereitwillig bestätigen. Als kleiner, etwas weicher "Babyboomer", der eine ganze Reihe von sportlichen Defiziten aufwies, bildete ich ein beliebtes Zielobjekt für Schreiattacken aller Art.

Sack vom Seil

Sportlehrer gewährten häufig Blickkontakt mit ihrem Rachenzäpfchen. Entweder hatte man den Kasten nicht geschwind genug erklommen, oder man war wie ein Sack vom Seil gerutscht. Das pädagogische Gebrüll fand im Klassenzimmer seine Fortsetzung. Man wurde angeschrien, weil man einfältig war, asozial, begriffsstutzig, ungewaschen oder mit der Konjugation von Verben per Sie. Erst später wurde einem hinter vorgehaltener Hand bedeutet, dass dieser oder jener Professor im Krieg als Flakhelfer gedient habe. Weshalb der Bedauernswerte partiell ertaubt sei und daher genötigt, seine Stimme unmäßig zu erheben.

Als ich Anfang der 1980er einem Konzert von The Who in der Wiener Stadthalle beigewohnt hatte, nahm ich meine akustische Umwelt eine Woche lang wie durch einen Filter wahr. Nichts verirrte sich in mein Ohr. Das Gebrüll meiner Professoren glich Zephyrs Gesäusel. Jede Lehrerzunge, war sie auch noch so geschmeidig, blieb außen vor. (Ronald Pohl, 27.3.2024)