An den Schließfächern kommen die meisten Menschen, die tagtäglich im Bahnhof Praterstern umsteigen, gar nicht vorbei. Dabei sind sie gleich in der großen Bahnhofshalle zu finden, allerdings in dem Gang neben der Felber-Bäckereifiliale, wo es hinten links dann auch zu den Klos geht. Und hinten rechts kann man den Bahnhof verlassen kann, um beispielsweise zur Lassallestraße zu gelangen, oder auch zum neuen Haus der Wiener Wirtschaft.

Sandra (Bildmitte) erklärt Sozialminister Rauch das Problem mit den Schließfächern: "Früher konnte man zehn Schilling reinschmeißen und hat sie beim Öffnen wieder zurückbekommen."
Putschögl

Dieser unscheinbare Gang wird von wohnungslosen Menschen schon einmal "Wohnzimmer" genannt. Allerdings ist das Wohnzimmer im Lauf der Zeit ungemütlicher geworden. "Früher konnte man zehn Schilling in die Schließfächer reinschmeißen und hat sie beim Öffnen wieder zurückbekommen", erzählt Sandra, 55 Jahre alt, die Teile ihrer Kindheit letztlich unfreiwilligerweise am und rund um den Bahnhof Praterstern, der damals noch Bahnhof Wien Nord hieß, verbracht hat. "Heute schmeißt man 2,50 Euro hinein, und die sind dann weg." Zum Verstauen von allerlei Dingen, die man nicht ständig mit sich herumschleppen wollte, waren die Schließfächer perfekt. Jetzt geht das nicht mehr, aus Kostengründen.

Security wird zur "Sekkier i di"

Einblicke wie diese in den Alltag wohnungsloser Menschen bekommt man auf einer Tour mit den "Backstreet Guides", die seit dem Vorjahr vom gleichnamigen Verein angeboten werden. Sandra ist einer von vier Guides, die auf diesen "sozialen Stadtführungen" ein wenig ein Gefühl dafür geben, was es heißt, auf der Straße zu leben. Die Bahnhofsinfrastruktur verwandelt sich dann schnell in die lebensnotwendige Basis, eben das "Wohnzimmer", das natürlich auch als Treffpunkt dient. Das macht den Bahnhof Praterstern in den Augen mancher zu einem sozialen Brennpunkt, mit Gewalt, Alkohol und Drogen und allem anderen, was dazugehört. Was den Alkohol angeht, so gilt hier im und rund um den Bahnhof nun allerdings schon seit einigen Jahren ein totales Verbot.

Früher habe man manchmal sogar in einem Raum des alten Bahnhofs übernachten dürfen, erzählt Sandra. Damals sei das noch toleriert worden. Heute wird die Bahnhof-Security von Wohnungslosen "Sekkier i di" genannt; der Ton ist allgemein rauer geworden.

Auf Dachböden übernachtet

Mittlerweile ist die Tour in der Venediger Au angekommen: einer Grünfläche am Praterstern mit einem großen Spielplatz. Im Juli 2023 wurde hier eine obdachlose Frau durch Messerstiche schwer verletzt.

Sandra berichtet von ihrer Kindheit und Jugend: Ihre Mutter sei "verschwunden", als sie erst einen Monat alt war. "Sie wollte ins Kino, kam nicht mehr zurück." Der Vater hatte sie gleich gar nicht als sein Kind anerkannt, deshalb landete sie bei Pflegeeltern im Burgenland, später in einem Heim. Mit zehn tauchte der Vater plötzlich auf und nahm sie mit, doch er war Gewichtheber und Choleriker, eine unvorteilhafte Kombination. Also haute Sandra ab von zu Hause, "zog" in die Venediger Au. "Ich wollte alleine erwachsen werden." Sie übernachtete auf Dachböden der angrenzenden Zinshäuser, klaute Essen im Konsum, den es damals noch gab, wurde erwischt, landete wieder im Heim. Eine geradezu beispielhafte "schwierige Kindheit".

Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) machte mit bei der Tour der Backstreet Guides, Hedy und Sandra waren die Guides.
Putschögl

Das alles erzählt Sandra auf der Tour der Backstreet Guides, an der an diesem Tag auch Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) teilnimmt. Er will sich ein Bild machen vom Leben wohnungsloser Menschen, was Sandra sichtbar super findet, sie ist in ihrem Element. "Obdachlose haben immer einen Rucksack dabei", sagt sie. Und fragt den Minister, welche drei Dinge er einpacken würde. "Eine Decke, einen Regenschutz", sagt Rauch nach längerem Nachdenken. Sie hilft ihm ein wenig: Ausweise und ein Handy seien auch noch sehr wichtig; Schlafsäcke weniger, "die bekommt man eh überall".

Als Jugendliche ist Sandra dann "mit Punks durch ganz Wien gezogen"; bei der für rund eine Stunde angesetzten Backstreet-Guide-Tour kommt man nicht ganz so weit herum, auch wenn in Anwesenheit des Ministers fast zwei Stunden daraus werden.

"Mehr Plätze für Frauen und Jugendliche"

Sandra, die heute in einer betreuten Einrichtung wohnt und zweifache Mutter ist, und ihre Mitstreiterin Hedy wollen noch etwas herzeigen, nämlich den Volkertplatz im 2. Bezirk, wo es den "Frauentreff" gibt, mit allerlei Beratungsangeboten und Hilfestellungen in verschiedenen Lebensbereichen. Ganz allgemein gebe es zu wenige Plätze für Frauen und Jugendliche, die wohnungslos oder auch nur "versteckt wohnungslos" seien, macht Sandra dem Minister klar. "Versteckte Wohnungslosigkeit" liegt etwa dann vor, wenn Frauen bei Freundinnen, Verwandten oder Bekannten Unterschlupf suchen. Manchmal würden Frauen auch "in Beziehungen gehen, die sie nicht wollen", nur um nicht obdachlos zu sein.

Sozialminister Rauch nimmt von der Tour mit, dass es möglichst niederschwellige Angebote brauche, und weist darauf hin, dass aufgrund des Klimawandels auch die Hitze in der Stadt zunehmend zum buchstäblich heißen Thema werde. "Da braucht es mehr gekühlte Räume, damit Menschen sich dort erholen können – nicht nur marginalisierte Gruppen, sondern auch ältere Menschen, die nicht wohnungslos sind, aber keine Möglichkeit haben, ihre Wohnungen zu kühlen."

"Housing First" und "Wohnschirm"

Was den Kampf gegen die Wohnungslosigkeit betrifft, verweist Rauch auf das Programm "Housing First", das in Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (Bawo) umgesetzt wird und vom Sozialministerium mit 6,6 Millionen Euro finanziert wird. Das Projekt setzt auf den international erfolgreichen "Housing First"-Ansatz: Statt in Notquartieren oder Übergangswohneinrichtungen unterkommen zu müssen, wird wohnungslosen Menschen direkt eine eigene Wohnung vermittelt, mit eigenem Mietvertrag. Finanzierungsbeiträge, Umzugskosten und Kautionen werden vom Projekt übernommen, denn von armutsbetroffenen Menschen seien solche Kosten oft nicht zu stemmen.

Im März 2022 hat das Sozialministerium außerdem den "Wohnschirm" ins Leben gerufen, um Menschen, die aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie von Wohnungslosigkeit bedroht sind, zu unterstützen. So sollen Delogierungen verhindert werden, was laut Sozialministerium bisher bei 7.500 Haushalten funktioniert hat. Weitere 89 Haushalte wurden beim Wohnungswechsel unterstützt. Insgesamt hat der Wohnschirm bisher 8.400 Haushalte bzw. 19.200 Personen unterstützt. Seit Anfang 2023 kann man auch wegen offener Energierechnungen bei einer der mittlerweile bundesweit 164 Beratungsstellen Hilfe suchen. Die finanziellen Mittel für den Wohnschirm wurden von ursprünglich 24 auf nunmehr 224 Millionen Euro aufgestockt. 70 Millionen Euro wurden bisher ausbezahlt.

Die Tour endet, Sandra packt ein Kaffeehäferl aus, bittet um freiwillige Spenden. 17 Euro pro Person werden auf der Website des Vereins empfohlen, für Schülerinnen und Schüler sind es zehn. Mehr sichtbare Informationen würden von Wohnungslosigkeit Betroffene brauchen, gibt Sandra dem Minister noch auf den Weg. "Und die Politiker sollten uns an Lösungen mitarbeiten lassen. Wir sind ja nicht deppert, nur weil wir obdachlos sind!" (Martin Putschögl, 27.3.2024)