Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die rückkehrorientierte Wanderarbeit für viele Männer auf dem Balkan zu einer weitverbreiteten Lebensweise. Zumeist zielte sie darauf ab, die verbreitete Armut zu lindern, in manchen Gebieten setzte sie aber auch Kreisläufe in Gang, die zu wirtschaftlichem Aufschwung und sozialen Transformationen beitrugen. Die Ausbreitung von Geldwirtschaft, Kapitalrückflüsse und die neu gewonnenen Erfahrungen jenseits des Heimatdorfes führten vielerorts zum Aufkommen eines Zukunfts- und Fortschrittsdenkens, das es in der subsistenzorientierten bäuerlichen Welt bis dahin kaum gegeben hatte.

Mit der Amerikamigration, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzte, eröffneten sich schließlich ganz neue Horizonte. Viele Menschen erhofften sich davon eine rasche Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, und nicht wenige träumten von Reichtum und einem Leben in Luxus und Überfluss. Das Unternehmen Amerikamigration war jedoch mit neuen Herausforderungen verbunden, und vielfach verlief die Umsetzung keinesfalls so, wie man es ursprünglich geplant hatte. Trotz der enormen Ausstrahlung, die Amerika auf viele Menschen in Südosteuropa hatte, dachten weiterhin viele daran, nach Erreichung der gesteckten Ziele wieder zu ihren Familien zurückzukehren. Der Rückkehrgedanke lässt sich auf zahlreichen Ebenen beobachten, und die Gründe dafür waren vielschichtig.

Die "Nachzügler" aus Südosteuropa

Im europäischen Vergleich setzte die ost- und südosteuropäische Überseewanderung erst spät ein. Bereits ab den 1820er-Jahren war es in Nord- und Westeuropa zu Massenauswanderungen nach Übersee gekommen. Betroffen von der Amerikawanderung waren zumeist Peripheriegebiete, die in unterschiedlicher Intensität erfasst wurden. Die ärmsten Gebiete waren aber nicht notwendig die am stärksten betroffenen. Vielmehr erkennt man, dass Emigration – vor allem dann, wenn es große Distanzen zu überwinden galt – bestimmter Voraussetzungen bedurfte, wie etwa eines gewissen Grundkapitals, bestimmter Informationen sowie einer Infrastruktur, die es den Migranten ermöglichte, eine derartige Reise in Angriff zu nehmen. Außerdem bedurfte es bestimmter ökonomischer und politischer Push-Faktoren, die es hier kurz zu erläutern gilt.

Turbulente Krisenzeiten im ausgehenden 19. Jahrhundert

Der Wirtschaftshistoriker Michael Paleiret beschreibt die ökonomische Entwicklung auf dem Balkan im Jahrhundert vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges als "evolution without development". Zwar ließ sich in der Region eine beträchtliche ökonomische Dynamik in Form von (Proto-)Industrialisierung, Urbanisierung und der Entstehung von Handels- und Gewerberäumen beobachten, aber nur wenige Regionen waren von einem nachhaltigen Aufschwung gekennzeichnet. Die Versuche der jungen Nationalstaaten (Griechenland, Serbien, Bulgarien, Montenegro), ihre Volkswirtschaften durch Protektionismus und Subventionen bestimmter Branchen zu schützen, waren angesichts der zunehmenden Einbindung in globale Wirtschaftskreisläufe kaum von Erfolg gekrönt. Vielfach entstanden dadurch neue Abhängigkeiten, die einer eigenständigen ökonomischen Entwicklung entgegenwirkten.

So konnte etwa das lokale Handwerk nicht mehr mit den billigen Importen von industriell gefertigten Gebrauchsgütern mithalten. Vor ähnlichen Problemen stand die exportorientierte Landwirtschaft, die der Konkurrenz aus anderen Regionen unterlegen war. In weiten Teilen der Region waren die landwirtschaftlichen Anbaumethoden noch ausgesprochen primitiv, es wurde kaum Kunstdünger eingesetzt und vielerorts dominierte noch die Dreifelderwirtschaft. So büßten die dalmatinischen Weinbauern ihre Konkurrenzfähigkeit ein, weil ihre Anbautechniken nicht mehr zeitgemäß waren. Als dann auch noch die Reblausplage, die sich ab den 1860er-Jahren rasant in Europa ausbreitete, hinzukam, wurde der Weinbau in Dalmatien praktisch lahmgelegt. Die Folge war eine massenhafte Abwanderung Richtung Übersee. Der wirtschaftlichen Entwicklung abträglich war auch das in der Region verbreitete gleichberechtigte Männererbe, das bei Haushaltsteilungen zur Zerstückelung von Landbesitz und zur Entstehung von Zwergwirtschaften führte. Das Bevölkerungswachstum beschleunigte diesen Prozess. Fehlendes Knowhow, Kapitalmangel und Wucherzinsen führten zur Verschuldung vieler Bauern, die sich gezwungen sahen, alternative Einkommensquellen zu erschließen.

Verschärft wurde die allgemeine Wirtschaftskrise durch die turbulenten politischen Entwicklungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die nationalen Emanzipationsbestrebungen im habsburgischen und die Nationalstaatsbildungen im osmanischen Einflussbereich sowie das Ringen der Großmächte um Einfluss, heizten Konflikte an und mündeten in den osmanisch beherrschten Gebieten auf dem Balkan bereits ab den 1870er-Jahren in kriegerische Auseinandersetzungen. Die zunehmende Unsicherheit beeinträchtigte nicht nur die ökonomischen Migrationskreisläufe, sondern führten immer häufiger zu Flucht und Vertreibung ethnischer und/oder religiöser Minderheiten. Vor diesem Hintergrund wurde die Amerikamigration für viele Menschen zu einem Hoffnungsfaktor, von dem man sich ein Entkommen aus der misslichen Lage versprach.

Die Agenten des Amerikabooms

Es waren mehrere Faktoren, die die Auswanderungsströme nach Übersee anschwellen ließen. Eine entscheidende Rolle spielte die Dampfschifffahrtsrevolution. In den 1850er- und 1860er-Jahren wurden die Segelschiffe rasch von den Dampfschiffen abgelöst, die wesentlich schneller und deutlich besser ausgestattet waren. Eine Atlantiküberquerung, die bis dahin fünf bis sieben Wochen gedauert hatte, konnte nun in zwei Wochen bewerkstelligt werden. Diese Raum-Zeitverdichtung machte die Überfahrt besser kalkulierbar, darüber hinaus wurden die Kosten deutlich günstiger.

Ausschlaggebend dafür waren die heftig konkurrierenden Schifffahrtsunternehmen, die einen regelrechten Preiskampf austrugen, um Klienten zu gewinnen. Von den Reedereien eigens abgestellte Agenten schwärmten in viele Regionen des Balkans aus, um die Überfahrt zu bewerben. Sie beschränkten sich dabei nicht allein auf den Verkauf von Tickets, sondern agierten auch als Kreditgeber, boten sich an, die erforderlichen Dokumente zu besorgen und vermittelten Arbeitsplätze an den Zielorten. Mitunter kooperierten sie mit Leuten vor Ort, die ihren Einfluss gegen Bezahlung geltend machten und ihren Landsleuten die Reise schmackhaft machten.

Ein entscheidendes Motiv für die Amerikamigration war das bessere Einkommen. In den Industriebetrieben konnte man das fünf- bis sechsfache von dem verdienen, was in Europa bezahlt wurde. Mit dem deutlich höheren Einkommen verband sich auch die Erwartung, in verhältnismäßig kurzer Zeit ausreichend Geld zu verdienen, um wieder zurückkehren zu können. Die Rückkehrabsicht wurde auch am Geschlechterverhältnis deutlich. Wie im Fall der regionalen Wanderarbeit waren es mit Blick auf Südosteuropa vorwiegend Männer, die sich auf den Weg nach Amerika machten. Zwar verschuldeten sich viele, um sich die Reise finanzieren zu können, aber nur selten verkauften die Bauern ihr Land, was als ein Zeichen dafür gewertet werden kann, dass sie beabsichtigen, zurückzukehren.

Mythos Amerika

Die Anziehungskraft, die von Amerika ausging, wurde zu einem beträchtlichen Ausmaß auch von Briefen und Bildern genährt, die Migranten an ihre Familien sandten. Auch hier ließ sich vielfach ein Muster beobachten, das darauf abzielte, den Zuhausegebliebenen den Eindruck zu vermitteln, dass es sich gelohnt habe, wegzugehen, und dass man sich vor allem keine Sorgen machen müsse um die Abwesenden. Die Realitäten der Migration, die harten Arbeitsbedingungen, die Ausbeutung, die Unsicherheiten und Gefahren sowie die gänzlich neuen, zumeist trostlosen und entbehrungsreichen Lebensbedingungen in den Industriebetrieben, in den Bergwerken und in der Bauwirtschaft blieben dabei ausgeblendet.

Ein beredtes Beispiel dafür findet sich in der Familiensaga des montenegrinischen Schriftstellers Bato Tomašević, der, basierend auf Dokumenten und Erinnerungen, die Emigration und die Rückkehr seines Großvaters und dessen vier Brüder nach Amerika eindringlich schilderte. 1908 ließen sich die fünf jungen Männer aus dem kargen montenegrinischer Bergdorf Bukovik über Triest nach Amerika ausschiffen, um dort ihr Glück zu suchen. Drei Jahre später erhielten die Eltern ein erstes Lebenszeichen, einen kurzen Brief, der auch ein Foto beinhaltete, das eine geradezu magische Ausstrahlungskraft entwickelte.

Bato Tomašević, Eine Familiensaga im Jahrhundert der Konflikte. Frankfurt/New York: Campus 1999, 35.
Das Foto stammt aus dem Band von Bato Tomašević, "Eine Familiensaga im Jahrhundert der Konflikte". Campus,Frankfurt / New York 1999.
Campus

Das Foto zeigt vier der fünf Brüder mit sauber gestutzten Schnurrbärten und ordentlichen schwarzen Anzügen, mit goldenen Uhrketten und Füllern als wohlhabende junge Männer, die ihr Glück in der neuen Welt gemacht haben. Aus dem Brief ließ sich nur entnehmen, dass sie in einer Goldmine in Alaska arbeiteten und dass es ihnen gut gehe. Tomašević schreibt, wie seine Großmutter stundenlang das Foto betrachtete, um aus den Gesichtern etwas herauszulesen, das ihr bislang entgangen war. Sie zeigte das Foto überall im Dorf herum, begierig darauf, Komplimente über ihre schönen und wohlhabenden Söhne zu bekommen. Was die Mutter nicht wusste war, dass die Söhne diese Anzüge nur geliehen hatten und dass das Fotostudio, das auf die Herstellung solcher Bilder spezialisiert war, die Ausstattung und das Styling arrangierte hatte.

Man kann davon ausgehen, dass derartige Bilder enorm wirkungsvoll waren bei der "Anwerbung" von billigen Arbeitskräften. An anderer Stelle schreibt Tomašević, wie sich die jungen Männer aus Bukovik an lauen Sommerabenden am Dorfplatz bei der Kirche versammelten und bis spät in die Nacht darüber redeten, wer weggehen würde und mit wem und welchem Mädchen man zuvor vielleicht noch einen Heiratsantrag machen sollte. Inspiriert wurde der Amerikamythos von Geschichten über Neuankömmlinge, die praktisch über Nacht bei der Suche nach Gold reich geworden waren. Derartige Erzählungen, ausgeschmückt mit der Fantasie der Mittelmeerbewohner, stimulierten die Vorstellungen der jungen Leute, die von einem luxuriösen Leben in Amerika träumten.

Der nächste Beitrag befasst sich mit den amerikanischen Realitäten, mit den Fragen, wie es den Migrant:innen in Amerika erging, wie sie lebten, arbeiteten, sich organisierten und sich an die harten Bedingungen in einem völlig neuen Umfeld anzupassen versuchten. Dabei wird auch die Frage erörtert, warum sich viele dazu entschlossen, wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren. (Robert Pichler, 28.3.2024)