Tausende Einfamilienhäuser, eine 6,6 Kilometer lange Durchzugsstraße und viel, viel Blech: So lässt sich Strasshof im östlichen Niederösterreich am ehesten beschreiben. Fährt man mit dem Pkw durch die Marktgemeinde, kann es leicht sein, dass man im Stau steckenbleibt. Die Straße ist breit, die Häuser entlang der Hauptverkehrsader sind ein wilder Mix aus Stilrichtungen und Epochen. Eingeschoßige Gewerbeobjekte säumen die Straße, man wähnt sich eher auf einem Boulevard in einer wenig glamourösen Ecke von Los Angeles als im an sich eher beschaulichen Marchfeld.

Ludwig Deltl (SPÖ) ist seit 16 Jahren Bürgermeister von Strasshof. Seine Vorgänger hätten es verabsäumt, in der 6,6 Kilometer langen Gemeinde ein Ortszentrum zu schaffen, sagt er.
© Christian Fischer

Doch so wie das ferne L.A. ist auch Strasshof das Ergebnis eines viel zu sorglosen Umgangs mit der Ressource Boden und einer bestenfalls autozentrierten, grundsätzlich aber eher unstrukturiert vonstattengegangenen Siedlungspolitik. Und ausgerechnet eine weitere breite Straße soll die Fehler der Vergangenheit nun zumindest teilweise bereinigen: die Marchfeld-Schnellstraße S8.

Geplant seit Jahrzehnten, erhoffen sich viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Gegend durch sie eine Entlastung des Verkehrs – und Betriebsansiedlungen. Letztere fehlten der Region nämlich am meisten, sagen die Vertreterinnen und Vertreter der Gemeinden. Doch es sieht aktuell eher nicht so aus, dass die Schnellstraße gebaut wird. Aktuell liegt nicht nur die S8 auf Eis, sondern auch die S1 bei Raasdorf, aus der die S8 eigentlich abzweigen und dann in einem ersten Abschnitt über 14,2 Kilometer bis zum Süden Gänserndorfs führen sollte. Doch die Trasse führt mitten durch ein Vogelschutzgebiet.

Grafik Marchfeld-Schnellstraße
Von der S8 ist bisher nur der westliche Abschnitt im Detail geplant, für den östlichen Abschnitt gibt es nur eine ungefähre Trasse. Doch aktuell "wackelt" bekanntlich auch der S1-Ringschluss samt Lobautunnel, aus dem die S8 nahe Wien eigentlich abzweigen sollte.
Standard

Autos und Einfamilienhäuser

Seit 101 Jahren ist Strasshof eine eigenständige Gemeinde, und natürlich war das Auto hier in den 1920er-Jahren noch kein großes Problemfeld. Einst befand sich hier der größte Verschubbahnhof der Monarchie. Schon damals wurden aber erste Pläne gewälzt, Arbeiter rund um den Bahnhof anzusiedeln, die von hier aus in Industriegebieten entlang der Nordbahn arbeiten sollten. Zuerst entstand das Bartoschviertel nordwestlich des Bahnhofs. Recht bald verlagerte sich das Geschehen aber in den Süden, wo heute die breite Bundesstraße 8 den Ort durchschneidet. Die Siedlungspolitik folgte dem Laissez-faire-Prinzip. Viele verwirklichten sich hier ihren Traum vom Einfamilienhaus mit Garten. Baugründe waren lange sehr preiswert, der Quadratmeter Bauland wurde noch in den 1960er-Jahren "in Groschenbeträgen gehandelt", erinnert sich Ludwig Deltl. Er ist seit 16 Jahren Bürgermeister.

Bürgermeister Deltl erhofft sich von der Marchfeld-Schnellstraße eine gewisse Verkehrsberuhigung zumindest in den Ortskernen.
© Christian Fischer

Zu Beginn, 1923, wohnten hier knapp 1000 Menschen, sagt er beim Besuch des STANDARD im Gemeindeamt. Heute sind es fast 12.000. Sie leben in etwas mehr als 6000 Wohneinheiten, die sich auf 4800 Wohngebäude verteilen, sagt das Gebäude- und Wohnungsregister der Statistik Austria. Daran lässt sich erkennen, wie sehr das Ein- und das Zweifamilienhaus in Strasshof dominieren.

Diese vorhandenen Strukturen machen es Politikern und auch Raumplanern, die hier etwas zum Besseren verändern wollen, nicht einfach. Michael Fleischmann, Raumplaner mit Büro in Wolkersdorf, betreut die Gemeinde Strasshof seit etwa zehn Jahren. Es gebe hier ältere Siedlungen, in denen es "teilweise Grundstücke mit 3000 bis 4000 Quadratmeter Grund und nur einem Wochenendhäuschen drauf" gebe, sagt er. Aufgeschlossene Parzellen, die förmlich nach Nachverdichtung schrien. "Strasshof könnte seine Einwohnerzahl verdoppeln, ohne neues Bauland widmen zu müssen." Jedoch: Allzu schnell soll diese Entwicklung auch wieder nicht voranschreiten. Deltl stieg, wie viele andere Bürgermeister rund um Wien auch, beim Wachstum mittlerweile auf die Bremse.

So wie das auch René Lobner gemacht hat, als er vor neun Jahren Bürgermeister von Gänserndorf wurde. "Die Infrastruktur muss erst nachziehen", die Bevölkerung sei in den vergangenen Jahrzehnten zu schnell gewachsen. Auch hier eher unmoderiert, davon zeugt heute die Siedlung Gänserndorf-Süd: mehrere lose aneinandergereihte Einfamilienhaussiedlungen, die kilometerweit vom Gänserndorfer Zentrum entfernt, in der Nähe des einstigen Safariparks Gänserndorf, entstanden sind und die heute geradezu als Paradebeispiel von Zersiedelung fungieren.

"Da wurden sicher in der Vergangenheit in der Siedlungspolitik Fehler gemacht", räumt Lobner ein. Doch die habe er nun versucht auszumerzen – durch die Ansiedlung zweier Kindergärten, einer Schule und eines Nahversorgers. "Aber natürlich sind die Leute nach wie vor aufs Auto angewiesen", sagt Lobner.

Die Deutsch-Wagramer Bürgermeisterin Ulrike Mühl-Hittinger (ÖVP) fordert die Marchfeld-Schnellstraße ebenso wie alle ihre Amtskollegen im Marchfeld.
© Christian Fischer

Schauplatzwechsel nach Deutsch-Wagram. Die erste größere Gemeinde an der B8 hinter der Wiener Stadtgrenze, rund 9000 Einwohner, bekommt den Verkehr am stärksten ab. 35.000 Fahrzeuge werden wochentags täglich durch die Stadtgemeinde bewegt.

Tonnen an Blech

"Tonnen an Blech, die tagtäglich durch Deutsch-Wagram rollen, mitten durch den Ort", beschreibt Ulrike Mühl-Hittinger, seit 2021 Bürgermeisterin, das Dilemma. Fragt man sie sowie ihre Amtskollegen Deltl und Lobner nach einem Ausweg aus der Verkehrshölle, heißt es unisono: Die S8 muss kommen.

In den Landkarten der Gemeinden und ihrer Umgebung ist die Straße bereits eingezeichnet, wenn auch nur strichliert und mit "in Planung" überschrieben. Die Hoffnung der Bürgermeister und ihrer Bewohner ist, dass der Durchzugsverkehr wegfällt, man die Straßen in den Ortszentren rückbauen und die Ortschaften verkehrsberuhigen kann.

Die Straße sei eine große Chance für die Region, sagt Mühl-Hittinger – nicht zuletzt für die Ansiedlung von Betrieben, ist sie überzeugt.
© Christian Fischer

Und dass es mit der S8 endlich wieder möglich sein wird, Betriebe anzusiedeln. 26 Hektar hat die niederösterreichische Standortagentur Ecoplus in Deutsch-Wagram angekauft, erzählt Bürgermeisterin Mühl-Hittinger. Das Areal befindet sich im Osten ihrer Gemeinde, dort, wo sie schon an Strasshof und das südlich gelegene Markgrafneusiedl grenzt. Ein alter Militärflughafen, südlich der Strasshofer Ortseinfahrt, wurde vor wenigen Jahren zum Betriebsgebiet umgewidmet, erste Betriebe haben sich angesiedelt. Es handelt sich um Markgrafneusiedler Gemeindegebiet, von den Ansiedlungen profitieren aber mehrere Gemeinden im Rahmen einer interkommunalen Zusammenarbeit.

Zumindest die Hälfte der 26 Hektar der Ecoplus in Deutsch-Wagram würde die Bürgermeisterin gerne noch umwidmen, sagt sie. "Manche Betriebe brauchen mehr Platz und würden gerne aus dem Ort raus." Doch derzeit lässt sich das nicht machen, weil es ohne S8 keine ausreichende Verkehrsanbindung gibt.

Große Autos, viele Einfamilienhäuser, viel Asphalt: Die Gemeinden entlang der B8 leiden an den Auswirkungen der Zersiedelung.
© Christian Fischer

In wenigen Tagen, am 19. März, findet die nächste Gerichtsverhandlung zur S8 statt. Seit mehr als einem Jahrzehnt wandert das Genehmigungsverfahren zwischen Behörde und Gerichten hin und her. Nicht nur die Gemeinden und das Land forcieren den Bau, auch die Asfinag hofft auf einen positiven Ausgang. In der jüngsten Verhandlung im Jänner kamen erneut Sachverständige zu Wort.

Triel kann Bauprojekt stoppen

Wolfgang Rehm von der Umweltschutzorganisation Virus spricht von einem für die Projektbefürworter "vernichtenden Vortrag" des Gerichtsgutachters für Naturschutz. Er wirft der Asfinag Verzögerungstaktik vor, nicht zum ersten Mal. Im Jänner erbat sie, neuerlich Stellungnahmen abgeben zu dürfen. Für Rehm ist die Sachlage klar: "Das Gericht kann derzeit nur gegen den Bau der S8 entscheiden." Die Vogelart Triel ist in Mitteleuropa vom Aussterben bedroht, seine Brutstätten liegen im Marchfeld und würden durch den Bau der Straße zerstört.

Rehm sieht ein Versagen der Gemeinden und des Landes, die schon längst Umfahrungen bauen hätten können, um die Verkehrssituation zu verbessern. Doch Umfahrungen müsste das Land bezahlen, die Finanzierung der Schnellstraße ist Bundessache.

Die Gemeinde Strasshof an der Nordbahn ist 6,6 Kilometer lang, beziehungsweise so lang ist die Bundesstraße 8, die den Ort durchzieht.
APA/GEORG HOCHMUTH

Transitverkehr sei nicht das Problem, sagt Rehm; die Verkehrsprobleme in den betroffenen Marchfeldgemeinden seien hausgemacht. Die Dörfer seien zu schnell gewachsen, indem zu viel Bauland gewidmet worden sei. In Gänserndorf, Strasshof und Deutsch-Wagram habe es einen Wettkampf gegeben, wer zuerst die 10.000-Einwohner-Grenze knacke.

Eine Erhebung des Verkehrsverbundes Ostregion zeigt, wie stark die Belastung im Bezirk Gänserndorf durch Pendlerinnen ist. Werktags fahren 48.300 Menschen auf dem Korridor Gänserndorf mit dem Pkw oder Moped in die Bundeshauptstadt, nur 8800 Personen nutzen öffentliche Verkehrsmittel. Die Stadt Wien nennt den Bereich "herausfordernd".

"Straßen verlagern Verkehr nur"

Experten bezweifeln, dass die S8 das Allheilmittel sein kann. Raumplaner Michael Fleischmann sagt, dass die S8 den Verkehr nicht reduzieren, nur verlagern und um die Orte herum leiten werde. Rund 3000 Autos gebe es allein in Strasshof, "die werden sicher weiterhin durch Strasshof fahren. Nur die, die von weiter nördlich kommen, wohl nicht mehr."

Die Bundesstraße 8 bringt viele Pendlerinnen mit dem Pkw aus dem Marchfeld nach Wien. Häufiger Stau ist das Resultat.
APA/HARALD SCHNEIDER

Katharina Jaschinsky vom VCÖ verweist auf Studien, die zeigen, dass der Bau neuer Straßen die Belastung nur kurzfristig lindert und längerfristig zu mehr Verkehr führt. Eine neue Straße sei sogar ein Anreiz, aufs Auto umzusteigen. Außerdem werde Zersiedelung gefördert, was wiederum zu mehr Verkehr führe. "Man kann von einem Teufelskreis sprechen", sagt die Verkehrsplanerin. Sie ist überzeugt, dass das Angebot die Nachfrage bestimmt. Baut man Straßen, wird der Pkw genutzt; errichtet man Schienen oder Radwege, werden Bahn oder das Fahrrad attraktiver.

Planen für die Zukunft

Was also kann die Lösung für Strasshof, Gänserndorf und Deutsch-Wagram sein, wenn nicht die neue Straße? Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs liegt auf der Hand. Mit der Nordbahn sind die drei Orte gut an Wien angebunden, die Takte könnte man zumindest bis zum Bahnhof Leopoldau verdichten und dort dann in die U-Bahn umsteigen. Jaschinsky plädiert außerdem fürs Mitfahren: "Betriebe können mit Apps Beschäftigte unterstützen, Fahrgemeinschaften zu bilden."

Die Politik müsse sich vor Augen halten, dass das, was heute gebaut werde, jahrzehntelang das zukünftige Mobilitätsverhalten bestimme, sagt die Mobilitätsexpertin: "Die Weichen müssen daher unbedingt heute schon richtig gestellt werden."

Vorausplanen für künftige Generationen also. Das, was die Gemeindepolitiker in Strasshof, Deutsch-Wagram und Gänserndorf in der Vergangenheit verabsäumt haben. (Martin Putschögl, Rosa Winkler-Hermaden, 16.3.2024)