"All we got is American made / It's a little bit cheesy / but it's nicely displayed" – Frank Zappa

Hat jemand eine Idee? Oder wenigstens eine Idee, was eine Idee sein könnte?

Der Begriff stammt vom griechischen "idea" ab, was laut Wikipedia so viel heißt wie "Gestalt, Erscheinung, Aussehen und Urbild". Früher, so ahnt der eine oder die andere beim Lesen solcher Definitionen vielleicht, war die Idee also etwas Echtes, etwas Einzigartiges, ein Urbild, ein Neuanfang, ein Original. Das war einmal. Die Industriegesellschaft ist die Kopiergesellschaft, das Reich vieler gleichartiger Kopien. Digitalisierung ist die Kopie der echten Welt, so gut, dass man die gar nicht mehr braucht oder erkennt. Eine Idee ist nicht mehr originell, sondern das, was man – und sich selbst – dafür hält.

 Kopiergesellschaft

Naivere Leute (wie ich) dachten, als das Internet vor mehr als dreißig Jahren allmählich in die Öffentlichkeit drang, dass damit die Kette der industriellen Nachahmung durchbrochen werden könnte. Nun konnte potenziell jede und jeder zeigen, dass sie originell waren, eigene Ideen vermarkten, die kleinen Leute genauso wie die großen.

Doch tatsächlich triumphierten im Webzeitalter nicht die Nerds, die an solche Selbstbestimmungsträumereien dachten, sondern die Trickdiebe des Digitalen, also die, die sich gute Ideen schnell aneignen und sie vermarkten. Also stehlen, plagiieren, kopieren. Auf Neudeutsch heißt das aber anders: "sich inspirieren lassen". Das klingt netter. Wir sind eine Beratungsgesellschaft geworden. Die zentrale kulturelle Leistung des Westens bestand einmal in Originalität. Heute sind wir Abziehbilder unserer selbst geworden.

Das
Geht auf dem Karrierenetzwerk Linkedin der Respekt vor der Idee verloren?
REUTERS/DADO RUVIC

Alle verfrühstücken, was auf dem Buffet der Geistes- und Wissensgeschichte vorhanden ist. Aber wer legt was dazu? Die Kopiergesellschaft ist die Konsumgesellschaft auf dem Höhepunkt ihrer Selbstverblendung. Von nichts kommt nichts? Na eben! Dann her mit deinem Zeug, damit ich auch was habe! Selber machen ist doof. Recht auf Teilhabe heißt das heute, und das klingt auch gleich ganz anders als: stehlen.

In den sozialen Netzwerken gibt es wirklich kluge, wirklich echte und originelle Menschen. Doch sie spielen kaum eine Rolle. Das große Hintergrundrauschen ist das So-tun-als-ob. Wie kann das eigentlich sein in einer Welt, die so viel Wert auf ihr vermeintlich hohes, ja höchstes Werte- und Ethikbewusstsein legt? Keine Firma ohne strengste Compliance-Regeln, keine Veranstaltung ohne Moralbeschwörung. Die Kopiergesellschaft zeigt uns, wie verlogen das ist. Nirgendwo lässt sich das besser beobachten als auf Linkedin. Warum?

Linkedin ist ein Karrierenetzwerk. Die meisten tun dort so, wie sie meinen, dass es anderen – von denen sie Jobs oder Aufträge wollen – gefällt. Dort zeigt man sich von seiner besten Seite. Oder, anders: Man schleimt sich ein.

Selfie, Selbst, Selbermachen

Reid Hoffman, der Gründer von Linkedin und einst rechte Hand des rechtslibertären Paypal-Masterminds Peter Thiel, hat 2002 den Laden hochgezogen. Er gehört heute zum Microsoft-Konzern. Hoffman ist 1967 geboren. In diesem Jahr erschien das famose Filmmusical "How to Succeed in Business Without Really Trying" (Wie man Erfolg hat, ohne sich besonders anzustrengen). Darin mausert sich der opportunistische Bürodiener Finch zum CEO, nur durch die Aneignung fremder Ideen, täglichen Opportunismus und all die anderen Sachen, die nicht nur in Konzernleitungen so gern gesehen werden. Auf Linkedin gibt es Abermillionen an CEOs. Denn es genügt nicht, seine Arbeit als Freiberufler, Beraterin, Selbstständige vorzustellen.

Man spielt ganz oben mit, und dafür braucht man, wie ja auch die Geschichte der Erfolgsmarken des Internets immer wieder zeigt, die Ideen anderer Leute. "Authentisch" und "empathisch" – zwei Begriffe, die in diesem Zusammenhang regelmäßig überstrapaziert werden – sind sie alle, wenn sie sich lächelnd mit ihren Kunden (sind es ihre Kunden?) vor Flipcharts knipsen oder ihren Urlaub als "Lernreise" von der Steuer absetzen und bei dieser Gelegenheit auch ein Selfie machen. Dass Selfie was mit Selbst und Selbermachen zu tun haben könnte, weiß die breite Masse schon lange nicht mehr. Alles nur geklaut, gezogen und geraubt, wie Die Prinzen so treffend sagen.

Portrait Wolf Lotter
Wolf Lotter ist Autor und ständiger Essayist des STANDARD.
Katharina Lotter

Klauen für Fortgeschrittene

Nur Anfänger klauen dreist, bis der Anwalt klingelt. Der Linkedin-Profi macht das anders. Er und sie sind Freerider. Das heißt übersetzt Trittbrettfahrer. Die fahren nicht nur gratis auf dem Erfolg und der Arbeit anderer mit. Sie klauen ihren Opfern auch noch die Koffer aus dem Waggon und tun dabei so, als ob Täter und Opfer eine fruchtbare Arbeitsgemeinschaft eingegangen wären. Da liegt zum Beispiel das aufdringliche Buch einer Beraterin neben einem Werk von Peter Drucker, darunter steht: "Habe grade Drucker gelesen, hat mich sehr an dein Buch erinnert ;-)" Das ";-)" meint aber nicht, dass die Neo-Autorin Drucker abgekupfert hat, sondern andersrum. Da die Leserin ja zuerst das Beraterinnenbuch las und dann Drucker, muss er es gewesen sein, der vor fünfzig Jahren geklaut hat. Was irre klingt, wird durch Selbstüberschätzung, Ignoranz und Unbildung ausgeglichen. An Likes fehlt es nicht.

Kurz dahinter fotografiert sich Ute aus W. in Selfie-Pose – ist das noch ein Karrierenetzwerk oder eine Partnervermittlung? – und zitiert Albert Camus, den "Mythos des Sisyphos", und schreibt: "Das ist, was ich auch sage, wir werden immer neu geboren – komm in meinen Workshop (Datum, Anmeldelink, drei Selfies)." Irgendwie ist das wie in einem Restaurant, in dem man isst, und plötzlich taucht ein Typ auf am Tisch und behauptet, er sei der lange verlorene Bruder, könne man bitte seine Rechnung übernehmen, eine Kleinigkeit? Im echten Leben würden wir solche Leute wahrscheinlich rauswerfen. Aber auf Linkedin sagt man nichts. Man ist immer auf Bussi-Bussi miteinander. Kritik wird weggedrückt.

Respekt vor der Idee

Damit entwertet man nicht nur die Wissensarbeit, die zur Idee führt, sondern macht Problemlöser und Nachdenker lächerlich. Die Behauptung, geistiges Eigentum sei ja gar keins, weil man ja selber gerade auch das Gleiche gedacht hat, ist natürlich eine Lüge und die eigene Kreativität durch Klauen alias Inspiration natürlich Bullshit. Nur hilft das wenig in einer Gesellschaft, in der die Leute zwar für jedes Brot eine Bioherkunftsbescheinigung verlangen, nicht aber für das, was Wirtschaft, Wohlstand und – Achtung, liebe Heuchler! – Anstand, Moral und Ethik am Laufen halten: Du sollst nicht stehlen. Warum aber tut man das dort, wo man sich eigentlich mit dem, was man verkauft, bewirbt? Wer will, dass wir wirtschaftlich weiterkommen, muss Wissen, Echtes, Originalität nicht nur mit Paragrafen schützen, sondern auch die Linkedin-ismen bekämpfen. Ächtet die Nachahmer und Trittbrettfahrer, die Kopisten und Taschendiebe der Idee. Respektiert Wissensarbeit. Ideenrecycling ist nicht nachhaltig, nur kurzsichtig.

Reden wir jetzt über den wichtigsten Grund, warum es die Trittbrettfahrer, die Freerider und Linkedin-Nervensägen überhaupt gibt: Sie passen sich an an das, was Manager immer noch mehrheitlich erwarten. Stehlen ist nur schlecht, wenn man dabei erwischt wird – dann heißt es: Haltet den Dieb. Aber sonst, mal ganz ehrlich?

Was wir hier sehen, ist also doch wieder echt, letztlich, ein reales Abbild der Arbeits- und Unternehmenswelt, in der es um Bekenntnisse und Behauptungen geht, um schnell abzustauben. Neues wird dabei nicht geschaffen. Diese alte Arbeitswelt ist älter als Linkedin und Co. Sie ist nicht echt, und alle wissen das. Es baut auf einem falschen Leben auf, das so viele als Mitläufer leben, als Opportunisten und, sagen wir es, wie es ist, als Arschkriecher, die digital auch nicht besser rüberkommen als in Präsenzmeetings und in der Cafeteria. Theodor W. Adorno sagte: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Aber es gibt ein richtig falsches Leben. Das zu ändern wäre doch echt mal eine Idee, oder? (Wolf Lotter, 15.3.2024)